Carina - sTdH 3
daß sie alt war. Obwohl Carina oft sehnlichst
gewünscht hatte, daß die alte Sünderin zur Ruhe kommen und sich ihrem Alter
entsprechend verhalten würde, hatte der Umstand, daß sie jetzt offensichtlich
genau das versuchte, etwas ungeheuer Erschreckendes an sich. Sogar ihr Gewand
zeugte davon, daß sie klein beigegeben hatte: ein müdes Braun mit Gold
durchwirkt. Ein Turban von bescheidenen Ausmaßen bedeckte ihren Kopf, und
Wunder über Wunder, sie war überhaupt nicht geschminkt.
In diesem
Moment wurde Lord Harry gemeldet.
Abgesehen
davon, daß sie einen Blick auf seine Beine warf, der zugleich düster und
lüstern war, benahm sich Lady Godolphin wie eine traurige, respektable Matrone.
Lord Harry
küßte Carinas Hand.
Carina
schaute ihn geradezu voll Ehrerbietung an; zum erstenmal sah sie ihn so, wie
ihn viele Frauen sahen.
Er trug
einen dunkelblauen Frack zu perlfarbenen Kaschmirhosen mit Bändern an den
Knien, weiße Seidenstrümpfe und leichte Pumps.
Sein
einziger Schmuck war eine riesige Diamantnadel, die bei einem anderen Mann
vielleicht vulgär ausgesehen hätte, aber Lord Harrys Erscheinung eindrucksvoll
unterstrich.
Seine
dicken glänzenden schwarzen Locken, das griechische Profil, die klaren blauen
Augen und die große schlanke Figur waren dazu angetan, ihn in den Augen jeder
Frau, die normal dachte und fühlte, unwiderstehlich zu machen.
Carina
hielt an ihrer Vorstellung von der reinen und himmlischen Liebe fest, und diese
Vorstellung diente ihr als Barriere gegen all diese aufwühlenden Regungen in
ihrem Inneren und das nervöse Prickeln in den Handflächen.
»Ihr werdet
also nicht heiraten?« fragte Lady Godolphin, als sie alle bei einem Glas Wein
saßen.
»Nein«,
antwortete Lord Harry gleichmütig.
»Dann ist
es wohl besser, ihr gebt mir mein Geschenk zurück«, sagte Lady Godolphin. »Hat
mich einen Haufen Geld gekostet.«
»Ja,
natürlich«, antworteten Lord Harry und Carina wie aus einem Munde, und dann
schauten sie einander an und mußten lachen.
Lady Godolphins
Geschenk war ein riesiges Ölgemälde, das eine üppige römische Matrone
darstellte, die sich nicht ganz überzeugend erstach, während sie die Augen zu
einem stürmischen Himmel emporrollte. Sie trug nur einen Schleier über ihren
beachtlichen Oberschenkeln, der durch Zauberhand festgehalten zu sein schien,
denn mit der einen Hand erstach sie sich und mit der anderen wies sie gen
Himmel. Einige dunkelhäutige behaarte Römer stürmten im Hintergrund dahin, um
sie zu rächen oder irgend etwas dergleichen zu tun. Lord Sylvester hatte
gesagt, es handle sich vermutlich um Lukretia, da Lady Godolphin es stolz als
französisches Bild mit dem Namen ›Le Crease‹ präsentiert hatte.
Lady
Godolphin schüttelte düster den Kopf über die beiden,murmelte
etwas über die Torheit der Jugend und verkündete, es sei Zeit, aufzubrechen.
Es
überraschte sie nicht wenig, daß Lord Harry seinen Zweisitzer von seinem
Schweizer Diener Bruno, der hinten kauerte, hatte vorfahren lassen.
»Mein
lieber Desire«, rief Lady Godolphin aus. »Ein offener Wagen! Bei diesem
Wetter!«
Es hatte
tagsüber nicht sehr heftig geschneit, so daß nur eine dünne Schneeschicht die
Straßen bedeckte. Aber jetzt fielen Schneeflocken durch die neblige Luft;
große, leichte Spitzenflocken, die langsam im flackernden Licht der Lampen nach
unten trieben.
»Wir fahren
doch nur ein paar Minuten«, sagte Lord Harry fröhlich. »Ich habe viele Decken
und heiße Ziegel.«
»Aber es
ist auch kaum Platz für drei«, jammerte Lady Godolphin.
»Was! Eine
Sylphe wie Sie? Kommen Sie, Lady Godolphin.«
Unter ganz
fürchterlichem Gemurre ließ sich Lady Godolphin von hinten schieben und von
vorne ziehen, bis sie schließlich auf dem hohen Sitz niedersank. Lord Harry und
Carina nahmen sie in die Mitte.
Carina
schaute traumverloren auf ihre Umgebung und fand es wundervoll, so hoch über
den Straßen Londons zu sitzen und dem hypnotisierenden Tanz der leichten
Schneeflocken zuzusehen.
Sie fühlte
sich freudig erregt und gleichzeitig dem Ersticken nahe – so wie früher an
Weihnachten.
Das
vergangene Weihnachtsfest war ziemlich enttäuschend gewesen. Die Jungen waren
aus Eton heimgekommen und dachten, sie seien etwas ganz Besonderes; sie
stolzierten herum wie Beaus auf der Bond Street. Dabei versuchten sie äußerst
gelangweilt auszusehen, was auf ihren fröhlichen Schuljungengesichtern komisch
wirkte.
Das
Stadthaus von Lord und Lady Brothers erstrahlte in hellem
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