Carl Mørck, Sonderdezernat Q Bd.4 - Verachtung
verdammten Stacheldraht kommst du ohne mich nicht drüber, das kannst du mir glauben.«
An der Stelle kicherte Nete ganz unerwartet.
»Hier darf nicht geflucht werden«, sagte sie leise und stupste Rita mit dem Ellbogen in die Seite.
Die war schon in Ordnung.
Nachdem Rita ihre beiden Zigaretten aufgeraucht hatte, sah sie auf die Uhr. Es war 10.58 Uhr, Zeit, sich in die Höhle des Löwen zu begeben und ihm die Zähne zu ziehen.
Kurz zögerte sie, überlegte, dem Jogger, der nun an einem Baum lehnte, zuzurufen, er möge auf sie warten. Aber dann stellte sie sich Netes schönes Haar und ihren kurvigen Körper vor und verwarf die Idee. Schwänze konnte man immer haben. Da brauchte man nur mit dem Finger zu schnipsen.
Sie erkannte Netes Stimme an der Gegensprechanlage nicht wieder, ließ sich das jedoch nicht anmerken.
»Nete, wie schön, deine Stimme zu hören!«, rief sie und drückte die Tür auf, als der Summer ertönte. Vielleicht war Nete ja tatsächlich krank. Ihre Stimme klang so.
Aber sobald Nete die Tür öffnete und vor ihr stand, war die kurze unerwartete Unsicherheit verschwunden, da waren die vergangenen sechsundzwanzig Jahre und der Groll zwischen ihnen wie weggeblasen.
»Komm rein, Rita, du siehst ja großartig aus! Und danke, dass du so pünktlich bist.«
Nete führte Rita ins Wohnzimmer und bat sie, Platz zu nehmen. Noch immer hatte Nete diese weißen Zähne und die vollen Lippen. Noch immer diese einzigartigen blauen Augen, deren Ausdruck blitzschnell zwischen Frost und Feuer wechseln konnte.
Fünfzig Jahre und noch genauso hübsch wie früher, dachte Rita, als Nete ihr den Rücken zuwandte und Tee einschenkte. Schlanke Beine, Hose mit Bügelfalten. Schmale Bluse, die über die geschwungenen Hüften fiel. Und der Hintern so fest wie eh und je.
»Du hältst dich phantastisch, meine Schöne. Ich weigere mich zu glauben, dass dir ernsthaft etwas fehlt. Sag, dass das nicht stimmt. Dass du die Krankheit nur als Vorwand benutzt hast, damit ich nach Kopenhagen komme.«
Mit herzlicher Miene drehte Nete sich zu ihr um, die Teetassen in den Händen. Sie antwortete nicht.
Immer noch dieses stumme Spiel, genau wie damals. »Ich hab nicht geglaubt, dass du mich je Wiedersehen wolltest, Nete«, sagte Rita und schaute sich dabei um. Die Wohnung war nicht sonderlich luxuriös eingerichtet. Nicht, wie Rita es bei einer Frau erwartet hätte, die mehrere Millionen auf dem Konto hatte. »Aber ich habe oft an dich gedacht, das kannst du dir ja vorstellen.« Sie blickte auf die beiden Tassen und lächelte. Zwei Tassen, nicht drei.
Also kein Anwalt. Das war vielversprechend.
Rita und Nete, die zwei passten gut zusammen, das hatte das Pflegepersonal sofort erkannt. »Im Kindertrakt fehlen uns Leute«, sagten sie und drückten ihnen Löffel in die Hand.
Ein paar Tage lang fütterten Rita und Nete hochgradig debile, große Kinder, die an die Heizkörper festgebunden waren, weil sie nicht ohne Hilfe am Tisch sitzen konnten. Eine entsetzliche Schweinerei, die ein wenig abseits erledigt wurde, damit niemandem der traurige Anblick ins Auge fiel. Und da die beiden sich der Aufgabe gewachsen zeigten und dafür sorgten, dass die Gesichter der Gefütterten immer schön sauber blieben, belohnte man sie mit der Aufgabe, auch gleich das andere Ende des Verdauungssystems sauber zu halten.
Rita musste sich immer wieder übergeben, denn da, wo sie herkam, hatte sie Scheiße nur zu sehen bekommen, wenn die Kloaken bei einem seltenen Wolkenbruch einmal überliefen. Nete hingegen wischte Hintern ab und wrang Windeln aus, als hätte sie nie etwas anderes getan.
»Scheiße ist Scheiße«, sagte sie, »und in Scheiße bin ich aufgewachsen.«
Dann erzählte sie Rita von Kuhfladen und Schweinescheiße und Pferdeäpfeln und Arbeitstagen, die so lang gewesen waren, dass einem der Job hier in der Anstalt wie Ferien Vorkommen konnte.
Aber Nete wusste sehr genau, dass es keine Ferien waren. Das sah Rita an den Rändern unter ihren Augen, und das hörte sie, wenn Nete den Arzt verfluchte, der ihr mit seinem idiotischen Intelligenztest den Verstand genommen hatte.
»Glaubst du vielleicht, irgendeiner der Ärzte hier in Brejning weiß, dass es ein Unterschied ist, ob man morgens um vier im Winter oder morgens um vier im Sommer zum Melken aufsteht?«, schimpfte sie, wenn einer der weißen Kittel auftauchte - was selten genug vorkam. »Glaubst du, einer von denen kennt den Geruch im Stall, wenn eine Kuh eine entzündete Gebärmutter
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