Carl Mørck, Sonderdezernat Q Bd.4 - Verachtung
mir fast so vor.« Viggo runzelte die Stirn.
Er befühlte den Stoff in ihrer Hand, hielt dabei aber ihren Blick fest, und sein Stirnrunzeln vertiefte sich. »Ich bin eine gute Stunde früher gekommen, Nete, und deshalb stand ich unten bei den Kastanien und habe geraucht, während ich wartete. Und weißt du, was ich da gesehen habe?«
Diesmal versuchte sie, nicht so hektisch zu reagieren, und schüttelte betont langsam den Kopf, aber das glättete nicht die nachdenklichen Falten auf seiner Stirn.
»Ich habe gesehen, wie ein ziemlich dicker Mann in einem absolut grottenhässlichen Anzug angerannt kam. Ich habe in meinem Leben nicht wenige hässliche Anzüge zu sehen bekommen, aber der, der war schon bemerkenswert. Und jetzt pass auf: Er war aus einem Stoff, der diesem hier verblüffend ähnelte. Der hat schon was sehr Markantes, der Stoff, oder? Na ja, und dieser Mann, der klingelte unten am Haus. Ein Mann, wie gesagt, der in einen Anzugstoff wie diesen hier gehüllt war.« Er deutete auf den Fetzen. »Das ist schon ein merkwürdiger Zufall, findest du nicht, Nete?«
Er nickte bekräftigend. Dann veränderte sich sein Gesichtsausdruck, und Nete wusste sofort, dass die nächste Frage fatal werden konnte.
»Du schriebst, ich sollte pünktlich kommen, weil du noch andere Verabredungen hättest. Ich hatte das so ausgelegt, dass du noch andere Gäste erwartest. Deshalb jetzt meine Frage: Kann es sein, dass der Mann in dem hässlichen Anzug einer davon war? Und wenn ja: Warum habe ich ihn das Haus nicht wieder verlassen sehen? Ist er etwa noch hier?«
Es war klar, dass das kleinste Zucken ihm die Antwort geben würde, deshalb lächelte sie ihn einfach nur an, stand mit äußerster Körperbeherrschung auf, ging in die Küche, öffnete die Tür zur Speisekammer, bückte sich zum Werkzeugkasten und griff nach dem Hammer.
Sie hatte keine Zeit mehr, das Handtuch darumzuwickeln, denn Viggo stand schon hinter ihr und wiederholte seine Frage.
Das reichte, um den Impuls auszulösen. Mit einer gleitenden Bewegung drehte sie sich um und schwang den Hammer gegen seine Schläfe. Es knirschte.
Leblos sackte er in sich zusammen. Es blutete kaum. Als sie feststellte, dass er noch atmete, holte sie die Kaffeetasse vom Wohnzimmertisch.
Er hustete und röchelte ein bisschen, als sie seinen Mund öffnete und die warme Flüssigkeit hineingoss. Aber nicht lange.
Einen Moment lang hockte sie neben ihm und betrachtete ihn. Wäre ihr Viggo damals nicht über den Weg gelaufen, dann wäre alles anders gekommen.
Aber jetzt gab es ihn nicht mehr.
Das, was Nete im Haus »Freiheit« in jener Nacht gesehen hatte, beschämte und quälte sie so sehr, dass sie es nicht auf Dauer verbergen konnte.
Rita fragte sie ein paarmal, was mit ihr los sei, aber Nete zog sich zurück. Nur im Dunkeln unter der Decke, wenn Nete eigentlich schon einschlafen wollte, gab es Kontakt zwischen ihnen. Die Form von Kontakt, die Rita für ihre Freundschaft verlangte. Als ob Nete diese Freundschaft noch brauchte.
Am Ende war es ein einziger Blick, der Nete verriet. Ein Blick, den sie während des Schlachtens auf dem Hof austauschten.
Einige der Mädchen, die auf dem Feld arbeiteten, hatten Overalls übergezogen, eins der Schweine von draußen geholt und auf dem Hof dem Schlachtergesellen zugeführt. Rita stellte sich vors Waschhaus, um sich den Spaß nicht entgehen zu lassen, Nete war nur zum Luftschnappen aus der Nähstube getreten. Als Rita ihre Gegenwart spürte und ihr den Kopf zuwandte, begegneten sich ihre Blicke über dem quiekenden Tier.
Es war einer dieser Tage, an denen Nete die Tränen im Hals steckten und die Sehnsucht nach einem anderen Leben tiefste Bitterkeit in ihr hervorrief. Einer dieser Tage, an denen die schlechte Stimmung in der Nähstube sie ganz besonders hinunterzog. Deshalb war der Blick, mit dem sie Rita ansah, unüberlegt. Und deshalb war der Blick, mit dem Rita zurückschaute, misstrauisch und hellwach.
»Du sagst mir sofort, was los ist!«, schrie Rita am selben Abend oben in ihrem Zimmer.
»Du vögelst für Zigaretten, ich hab es selbst gesehen. Und ich weiß, wofür du den hier benutzt.« Nete steckte die Hand unter Ritas Matratze und zog das Metallteil hervor, mit dem Rita die Klingel am Türrahmen ausschaltete.
Wenn Rita überhaupt schockiert sein konnte, dann war sie es jetzt. Aber sie hatte sich schnell wieder gefasst. »Falls mir zu Ohren kommt, dass du das rumtratschst, wird es für dich schlimmer werden als für mich, dafür
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