Carl Mørck, Sonderdezernat Q Bd.4 - Verachtung
geöffnet.
»Ah, mein Schatz.« Überrascht öffnete sie die Augen und war in Sekundenbruchteilen im Flirt-Modus. Im Vergleich zu ihr war Bambi eine Null im Wimpernklimpern.
»Mein schöner, großer, starker Polizist. Kommst du, um mich zu besuchen? Wie lieb von dir.«
Er hatte etwas sagen wollen wie: »Von nun an komme ich dich ganz regelmäßig besuchen.« Aber wie immer war es schwer, bei dieser Frau zu Wort zu kommen. Den Redefluss hatte sie sich wohl beim jahrzehntelangen Kellnern im Kopenhagener Nachtleben angeeignet. Und ihrer Tochter hatte sie das auch gleich vererbt. Die sprach in so langen Sätzen, dass Carl sich oft gewundert hatte, wie das atemtechnisch überhaupt hinzukriegen war.
»Willst du einen Zigarillo, Carl?« Sie zog eine Packung Advokat und ein Einwegfeuerzeug unter ihrem Rückenkissen hervor und machte sich ein Vergnügen daraus, die Packung übertrieben professionell zu öffnen.
»Du darfst hier nicht rauchen, Karla. Und überhaupt: Woher hast du die Zigarillos?«
Sie beugte sich zu ihm vor, sodass sich der Kimono auch oben öffnete und die Aussicht freigab. Das war fast des Guten zu viel.
»Ich erlaube dem Gärtner, hier drinnen bei mir tätig zu sein«, sagte sie kokett und stieß ihm den Ellbogen in die Seite. »Persönlich, du weißt schon.« Noch einmal stach der Ellbogen zu.
Carl wusste nicht, ob er sich bekreuzigen oder sich vor der Libido des Alters verneigen sollte.
»Ja, ja, ich weiß schon«, fuhr sie fort. »Ich soll meine Nikotintabletten schlucken. Das sagen sie mir dauernd.«
Sie nahm sich die Packung und steckte eine Tablette in den Mund.
»Am Anfang haben sie mir Nikotinkaugummis gegeben, aber die taugten nichts. Die klebten am Gebiss, sodass das andauernd rausfiel. Jetzt bekomme ich stattdessen Tabletten.«
Sie zündete sich einen Zigarillo an. »Und weißt du was, Carl? Man kann gut gleichzeitig rauchen und die Dinger lutschen.«
31
September 1987
N ete stand vor der Anrichte und wollte Viggo gerade einschenken.
»Nein, danke, ich trinke keinen Tee«, unterbrach er sie.
Entsetzt drehte sie sich zu ihm um. Wie bitte?
»Aber ein Kaffee würde mir guttun. Zwei Stunden Fahrt sind ja doch ermüdend, da kann man etwas frischen Schwung gebrauchen.«
Panisch sah Nete auf die Uhr. Das durfte doch nicht wahr sein! Nun wurde schon zum zweiten Mal Kaffee gewünscht. Warum, um Himmels willen, hatte sie diese Möglichkeit nicht bedacht? Sie hatte nur daran gedacht, dass Teetrinken heutzutage groß in Mode war. Hagebuttentee, Kräutertee, Pfefferminztee, es gab doch nichts, was die Leute nicht tranken. Klar, der Tee hatte auch den Vorteil, dass er den Geschmack des Bilsenkrauts gut überdeckte. Aber das tat Kaffee ja vielleicht auch? Warum hatte sie nicht wenigstens ein Glas Nescafé besorgt?
Sie hielt sich die Hand vor den Mund, damit er nicht merkte, wie hektisch sie auf einmal atmete. Und nun? Sie hatte keine Zeit, in die Nørrebrogade zu rennen, Kaffeepulver zu kaufen, Wasser aufzusetzen und den Kaffee aufzubrühen, völlig ausgeschlossen!
»Aber mit einem Schluck Milch, bitte«, bat Viggo. »Man hat ja nicht mehr so einen stabilen Magen wie früher.« Er lachte. Dieses Lachen - damals hatte es Nete dazu gebracht, sich ihm zu öffnen.
»Einen Moment.« Nete stürzte in die Küche und setzte Wasser auf.
Dann riss sie die Tür zur Speisekammer auf, stellte fest, dass sie tatsächlich keinen Kaffee hatte, sah den Werkzeugkasten und hob den Deckel. Da lag der Hammer.
Mit dem müsste sie schon sehr fest zuschlagen. Blut würde fließen, wahrscheinlich nicht wenig. Nein, das kam nicht in Frage.
Deshalb schnappte sie sich das Portemonnaie vom Küchentisch und eilte aus der Wohnung, um es bei der Nachbarin zu probieren.
Sie klingelte, hörte fast zeitgleich den kleinen Tibet-Terrier hinter der Tür knurren und zählte die Sekunden. Natürlich könnte sie ein Geschirrhandtuch um den Hammer wickeln und Viggo auf den Hinterkopf schlagen. Dadurch wäre er zumindest bewusstlos, sodass sie ihm den Bilsenkrautextrakt unverdünnt in den Mund träufeln könnte.
Nete nickte vor sich hin. Der Gedanke gefiel ihr nicht, aber sie wusste keinen anderen Ausweg. Sie wollte gerade in ihre Wohnung zurückkehren, um es hinter sich zu bringen, als die Tür vor ihr geöffnet wurde.
Nete hatte dieser Nachbarin nie Beachtung geschenkt, aber jetzt, da sie sich gegenüberstanden, erkannte sie die depressiven Gesichtszüge und die skeptisch blickenden Augen hinter den dicken Brillengläsern
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