Carl Mørck, Sonderdezernat Q Bd.4 - Verachtung
doch wieder.
Es dauerte einen Moment, bis Nete klar wurde, dass die Nachbarin sie nicht einordnen konnte. Kein Wunder, schließlich waren sie sich nur wenige Male im Treppenhaus begegnet und überdies war die Frau offenbar stark kurzsichtig.
»Entschuldigen Sie bitte die Störung, ich bin Ihre Nachbarin, Nete Hermansen«, sagte Nete und ließ dabei den Hund nicht aus den Augen, der dicht neben der Frau stand und knurrte. »Mir ist der Kaffee ausgegangen und mein Gast ist nur kurz da, vielleicht ...«
»Meine Nachbarin heißt Nete Rosen«, sagte die Frau misstrauisch. »Das steht an der Tür.«
Nete holte tief Luft. »Ja, verzeihen Sie. Hermansen ist mein Mädchenname, so heiße ich seit Kurzem wieder. Und so steht es jetzt auch an der Tür.«
Während die Nachbarin das neue Schild beäugte, versuchte Nete, einen soliden, sympathischen Eindruck zu machen. Innerlich schrie sie vor Verzweiflung.
»Natürlich bezahle ich dafür.« Bemüht, ihren Atem unter Kontrolle zu bringen, zog sie einen Zwanzigkronenschein aus dem Geldbeutel.
»Leider habe ich keinen Kaffee«, sagte die Nachbarin.
Nete rang sich ein Lächeln ab, bedankte sich und machte kehrt. Dann musste es eben doch der Hammer sein.
»Aber ein bisschen Nescafé hätte ich«, tönte es hinter ihr her.
»In einer Sekunde bin ich da«, rief Nete aus der Küche und goss Milch in ein Kännchen.
»Du hast vielleicht ein schönes Zuhause, Nete«, hörte sie Viggo an der Küchentür.
Nete hätte beinahe die Tasse fallen gelassen, als er ungeniert danach griff. Verkrampft hielt sie die Tasse fest, während sie sich panisch fragte, wie um Himmels willen sie den Extrakt jetzt hineinträufeln sollte. Kurzerhand drängte sie sich an ihm vorbei.
»Nein, lass mich. Komm mit und setz dich«, sagte sie. »Wir haben noch einiges zu regeln, bevor der Anwalt kommt.«
Sie hörte, wie er ihr folgte. Aber an der Wohnzimmertür blieb er stehen.
Mit blank liegenden Nerven blickte sie zu ihm und zuckte innerlich zusammen. Eben bückte er sich zum unteren Türscharnier und zupfte an etwas. Sie hatte sofort erkannt, was dort hing. Ein Stückchen Stoff. Glänzend und blau gemustert. Da also war Tages Jacke eingerissen!
»Schau mal her. Was ist das denn?«, fragte er und reichte ihr den Fetzen Stoff.
Nete zuckte vage mit den Achseln und stellte das Milchkännchen auf die Anrichte neben die Karaffe mit dem Bilsenkraut. Zwei Sekunden, dann hatte sie den Extrakt in den Kaffee geträufelt und Milch dazugegeben.
»Nimmst du auch Zucker?« Sie drehte sich zu ihm um.
Er stand nur wenige Schritte von ihr entfernt. »Fehlt dir das irgendwo?«
Mit der Tasse in der Hand ging sie auf ihn zu und tat so, als überlegte sie, was das sein könnte.
Dann lachte sie auf, etwas zu schrill vielleicht. »Du liebe Güte, nein. Wer könnte so etwas tragen?«
Er runzelte die Stirn, was ihr gar nicht gefiel, trat ans Fenster und betrachtete den Stoff eingehend im Licht. Zu lange und zu eingehend.
An dem Punkt begannen Tasse und Untertasse in ihrer Hand zu klirren.
Er wandte sich um und stellte fest, dass sie das Geräusch verursachte.
»Du machst einen nervösen Eindruck, Nete. Stimmt etwas nicht?«
»Nein, wieso?«
Sie stellte die Tasse auf den Tisch neben den Sessel. »Nimm bitte Platz, Viggo, wir wollen darüber sprechen, warum ich dich eingeladen habe, und wir haben leider nicht sehr viel Zeit. Trink doch deinen Kaffee, in der Zeit erzähle ich dir, wie ich mir die Sache gedacht habe.«
Warum setzte er sich nicht endlich hin und hörte auf, über dieses Stückchen Stoff zu grübeln?
»Dir scheint es nicht sonderlich gut zu gehen, Nete, oder irre ich mich?« Er legte fragend den Kopf schief, während ihm Nete wieder, und diesmal mit Nachdruck, bedeutete, sich zu setzen.
War ihre Nervosität wirklich so offensichtlich? Sie musste sich zusammenreißen.
»Nein, du irrst dich nicht«, antwortete sie. »Ich hab ja in meinem Brief geschrieben, dass ich ziemlich krank bin.«
»Das tut mir leid«, sagte er ohne Mitgefühl und reichte ihr den Stofffetzen. »Schau dir das an. Sieht das nicht aus, als würde das von einem Herrenanzug stammen? Wie kann so was unten an einer Türangel hängen bleiben?«
Sie nahm den Fetzen und betrachtete ihn genauer. Was sollte sie dazu sagen?
»Ich habe eine Ahnung, was das sein könnte, und das macht mich stutzig«, bemerkte Viggo.
Etwas zu schnell sah sie auf. Was ist hier los?, dachte sie. Was weiß er?
»Schockiert dich das, was ich sage, Nete? Es kommt
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