Carl Mørck, Sonderdezernat Q Bd.4 - Verachtung
aber doch nicht. Nete schien auf ihren zahlreichen Gängen zum Moor trotz vieler Gespräche nicht willens zu sein, sich hinzugeben.
Indirekt kam Mickey, die Katze des Leuchtturmwärters, Gitte eines Tages zu Hilfe.
Schon seit einigen Nächten wurde die Nachtruhe der Familie des Leuchtturmwärters durch zwei rivalisierende Hähne gestört, die sich einfach nicht einfangen ließen. Deshalb wurde der Gehilfe des Leuchtturmwärters losgeschickt, um auf Äckern und Wiesen ein gewisses Bilsenkraut zu sammeln. Das Kraut sollte verbrannt und mit dem Rauch die gesammelte Hühnerschar auf einen Schlag betäubt werden. Dann wollte man sich einen der Hähne schnappen und ihm den Hals umdrehen.
Das überschüssige Kraut wurde weggeworfen und landete in einer Pfütze. Dort lag es eine Weile und gärte, bis der Duft schließlich die Katze anlockte, die prompt von dem Wasser trank.
Eine Stunde lang sah die Familie, wie das Tier die Bäume rauf und runter jagte, ehe es sich vor die Vorratskammer legte, sich noch zweimal um die eigene Achse drehte und schließlich verschied.
Bis auf die Frau des Leuchtturmwärters amüsierten sich alle köstlich über dieses Schauspiel, und so kam Gitte die Geschichte von dieser seltenen Pflanze zu Ohren, die auf Sprogø gedieh und eine so erstaunliche Wirkung zeigte.
Sie ließ sich vom Festland Bücher zum Thema kommen und wusste bald genug über das Kraut, um selbst damit experimentieren zu können.
Macht über das Leben zu haben, das hatte Gitte schon immer fasziniert, und das Bilsenkraut gab ihr Macht. Diese Macht probierte sie schon bald an einem Mädchen aus, das vorlaut gewesen war. Gitte tauchte eine Zigarette in etwas Bilsenkrautextrakt, ließ sie trocknen und sorgte zu gegebener Zeit dafür, dass das Mädchen die Zigarette in der Tasche seiner Kittelschürze fand. Es dauerte nicht lange, da wurde die Zigarette hinter einer alten Steinsäule, von der es hieß, sie markiere die Mitte zwischen den Inseln Seeland und Fünen, geraucht. Die anderen hörten das Mädchen kurz darauf merkwürdig brüllen, wunderten sich aber nicht, als sie plötzlich ganz still war.
Die junge Frau überlebte zwar, aber sie war danach nicht mehr dieselbe und sollte ihre Todesangst auch nie mehr loswerden.
Prima, dachte Gitte. Dann habe ich jetzt ein Druckmittel für Nete.
Als Nete durchschaute, was Gitte tatsächlich von ihr wollte, und sich gleichzeitig mit einer so unverblümten Todesdrohung konfrontiert sah, war sie dermaßen schockiert, dass sie nicht einmal mehr weinen konnte. Ihr rettender Engel hatte sich als das Böse schlechthin entpuppt und alle ihre Träume, eines Tages in ein normales Leben zurückkehren zu dürfen, waren jäh verpufft.
Netes Schockstarre passte Gitte gut in den Kram. Sie hielt Nete hin, versicherte ihr immer wieder, bei der Vorsteherin ein gutes Wort für sie einzulegen, wenn sie, Nete, Gitte dafür eine Freude machen wolle. So gelang es ihr, sich Nete ziemlich lange gefügig zu halten. So lange, dass Gitte regelrecht abhängig wurde von dieser Beziehung, auch wenn sie selbst das nur ungern eingeräumt hätte. Der Kontakt zu Nete machte ihr das Leben erträglich, half ihr, den Alltag zwischen all den verbitterten und rachsüchtigen Kolleginnen auszuhalten. Ja, wegen dieser Beziehung hörte sie sogar auf, sich von der Insel wegzuträumen.
Wenn Nete neben ihr im hohen Gras lag, konnte sie alles andere verdrängen und in diesem Gefängnis frei atmen.
Wie nicht anders zu erwarten, war es schließlich Rita gewesen, die sich zwischen sie gedrängt hatte, was Gitte allerdings erst später erfahren hatte.
An dem Tag, als Rita endlich den Besinnungsraum verlassen durfte, kamen der Vorsteherin doch Zweifel.
»Bezüglich der Sterilisierung muss ich den Oberarzt zu Rate ziehen«, sagte sie. »Er wird wohl bald die Insel besuchen, und dann werden wir sehen.«
Aber die Abstände zwischen den Besuchen des Oberarztes waren lang, und Rita nutzte die Zeit, um sich zu rächen. Sie öffnete Nete die Augen und machte ihr klar, dass man sich auf Gitte nicht verlassen könne. Der einzige Ausweg sei Flucht.
Von Stund an herrschte wirklich Krieg.
39
November 2010
C arl, ich hab ihn jetzt fünfzehnmal angerufen, und er antwortet nicht. Ich bin sicher, dass er sein Handy ausgeschaltet hat. Warum nur? Das tut er doch sonst nie!« Keine Frage, Rose war aufrichtig besorgt. »Du bist aber auch ein Idiot! Bevor er gegangen ist, hat er gesagt, du hättest ihm vorgeworfen, er sei an dem Mord an diesem
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