Carl Mørck, Sonderdezernat Q Bd.4 - Verachtung
gewürdigt. Aber sie hatte ihn mit angehaltenem Atem betrachtet und sich ratlos und mit vor Wut glühenden Wangen in eine Ecke gedrückt und gleichzeitig gehofft, er möge sich nicht umdrehen oder im Spiegel ihr Gesicht erkennen.
Man sah auf den ersten Blick, dass er ein Mensch war, der vor Selbstzufriedenheit platzte. Einer, der alles im Griff hatte, wie man so sagte, der das Leben und - trotz seines fortgeschrittenen Alters - auch die Zukunft unter Kontrolle hatte.
Dieses Schwein.
Vor einer Stunde, achtundfünfzig Minuten und vierzig Sekunden hatte er den Aufzug im zweiten Stock verlassen, und Nete war mit geballten Fäusten und nach Luft ringend zurückgeblieben. In den nächsten langen Minuten hatte sie nichts mehr mitbekommen. War auf- und abgefahren, ohne auf die besorgten Fragen der anderen Kunden zu reagieren. Sie hatte sich einzig darauf konzentriert, Puls und Gedanken zu beruhigen.
Als sie wieder auf der Straße stand, hatte sie die Einkaufstüte nicht mehr bei sich. Wer brauchte schon einen hellroten Pullover und eine Bluse mit Schulterpolstern dort, wohin ihr Leben steuerte?
Und nun saß sie in ihrer Wohnung im vierten Stock, nackt und geschändet an Leib und Seele, und grübelte, wie sich die Rache am besten gestalten und gegen wen alles sie sich richten ließe.
Sie lächelte kurz. Vielleicht war ja gar nicht sie es, die Pech gehabt hatte? Vielleicht war es vielmehr dieser Unmensch, den das Schicksal abermals dazu gebracht hatte, ihren Weg zu kreuzen?
So war es ihr in den ersten zwei Stunden ergangen, nachdem Curt Wad ein weiteres Mal in ihr Leben getrampelt war.
Immer, wenn es Sommer wurde, kam auch Cousin Tage zu Besuch. Ein unerzogener Bursche, den weder die Schule noch die Straßen von Assens bändigen konnten. »Viel zu viele Muskeln und viel zu wenig Hirn«, sagte ihr Onkel über ihn, aber Nete war selig, wenn er kam. Dann hatte sie jemanden, der ihr ein paar Wochen lang bei ihrem Tagwerk half. Die Hühner füttern, das war für ein kleines Mädchen das Richtige, aber nicht all das andere. Tage wiederum war glücklich, wenn er die Finger in den Mist stecken konnte, und machte den Schweinestall und den kleinen Kuhstall schnell zu seiner Domäne. Nur wenn Tage bei ihnen war, konnte Nete abends schlafen gehen, ohne dass ihr Arme und Beine wehtaten, und dafür liebte Nete Tage. Liebte ihn vielleicht sogar ein bisschen zu sehr.
»Wer hat dir solche Schweinereien beigebracht?«, fuhr die Lehrerin sie nach den Sommerferien an. Ja, direkt nach den Sommerferien bezog Nete immer am meisten Prügel, denn Tages Lieblingsworte wie »bumsen« und »ficken« kamen in der einsamen Welt der Pädagogin nicht vor.
Worte wie diese und auch Tages sommersprossige Unbekümmertheit waren gewissermaßen die ersten Schritte auf dem Weg zu Curt Wad.
Während Nete sich wieder anzog, formte sich in ihrem Kopf die Liste. Eine Liste mit den Namen von Menschen, an die sie nur mit geschwollenen Halsadern und hämmerndem Puls denken konnte. Menschen, die dort draußen frei herumliefen und es nicht verdienten, zu atmen. Menschen, die nur nach vorn sahen und niemals zurück. Von der Sorte kannte sie einige. Die Frage war nun, was mit ihnen passieren sollte.
Sie trat auf den langen Flur und ging ins Esszimmer, in dem der Tisch stand, den sie von ihrem Vater geerbt hatte.
Mindestens tausend Mahlzeiten hatte sie an diesem Tisch eingenommen, während ihr Vater stumm, verbittert und des Lebens und der Schmerzen überdrüssig über seinem Teller hing. Selten einmal hatte er den Kopf gehoben und versucht, sie anzulächeln, denn nicht einmal dafür hatten seine Kräfte ausgereicht.
Wäre sie nicht gewesen, hätte er sich schon viel früher einen Strick genommen und allem ein Ende gesetzt, so sehr machten ihm die Gicht und die Einsamkeit und das Scheitern zu schaffen.
Sie strich über die dunkle Tischkante, auf der seine Unterarme immer geruht hatten, und ließ die Finger dann zur Mitte gleiten, wo seit knapp zwei Jahren, seit sie in diese Wohnung gezogen war, der braune Umschlag lag.
Er war inzwischen völlig zerknittert und abgegriffen, so oft hatte sie ihn geöffnet und die Briefbögen angeschaut.
Auf dem Umschlag stand: »Fräulein Laborantin Nete Hermansen, Technische Schule Aarhus, Halmstadgade, Aarhus N.«. Mit Rotstift hatte irgendein Postangestellter die Straße, die Hausnummer und die Postleitzahl ergänzt. Dafür war sie immer unendlich dankbar gewesen.
Vorsichtig strich sie über die Briefmarke und den
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