Carl Mørck, Sonderdezernat Q Bd.4 - Verachtung
Poststempel. Fast siebzehn Jahre waren vergangen, seit der Umschlag in ihrem Briefkasten gelandet war. Ein ganzes langes Leben schien das her zu sein.
Dann öffnete sie den Umschlag, nahm den Briefbogen heraus und entfaltete ihn.
Liebste Nete,
über verschlungene Wege habe ich herausbekommen, wie es in Deinem Leben weiterging, seit Du am Bahnhof in Bredebro lächelnd in den Zug gestiegen und uns zum Abschied gewinkt hast.
Du glaubst gar nicht, wie sehr mich gefreut hat, was ich über die vergangenen sechs Jahre Deines Lebens erfahren habe. Nicht wahr, jetzt weißt Du, dass Du gut genug bist? Dass Deine Leseschwäche kein unüberwindbares Hindernis war. Dass es auch für Dich einen Platz auf dieser Welt gibt. Und was für einen Platz! Ich bin so stolz auf Dich, meine liebe Nete. Realschulabschluss mit Bestnoten, Klassenbeste in der Laborantenklasse der Technischen Schule Aabenraa und nun bald fertige Labortechnikerin! Das ist einfach großartig. Du fragst dich sicher, woher ich das alles weiß. Stell Dir vor, die Firma Interlab A/S, die Dich zum 1. Januar eingestellt hat, wurde von meinem alten Freund Christopher Male gegründet. Sein Sohn Daniel ist sogar mein Patenkind. Wir sehen uns regelmäßig, zuletzt anlässlich unseres jährlichen Familientreffens am ersten Advent.
Und stell Dir vor, als ich meinen Freund fragte, womit er derzeit beschäftigt sei, erzählte er von dem Stapel Bewerbungen, den er gerade gesichtet hatte, und zeigte mir dann die, für die er sich entschieden hatte. Ja, da kannst Du Dir vorstellen, wie überrascht ich war, Deinen Namen zu sehen. Und als ich dann auch noch Deinen Lebenslauf las - bitte entschuldige meine Indiskretion -, da kamen mir ehrlich gesagt vor Freude die Tränen.
Aber nun, liebe Nete, will ich Dich nicht länger mit der Rührung eines älteren Herrn behelligen. Du sollst nur wissen, dass Marianne und ich uns unglaublich für Dich freuen, dass Du nun in aller Gelassenheit aufrecht in der Welt stehen und dieser Welt den kleinen Satz zurufen kannst, den wir uns vor so vielen Jahren ausgedacht haben: Ich bin gut genug!
DENK DARAN, mein Mädchen!
Wir wünschen Dir von Herzen alles Gute und viel Glück für Dein weiteres Leben.
Mit lieben Grüßen
Marianne und Erik Hanstholm
Bredebro, den 14. Dezember 1970
Dreimal las sie den Brief und dreimal blieb sie an den Worten: »Ich bin gut genug!« hängen.
»Ich bin gut genug!«, sagte sie dann laut, Erik Hanstholms Gesicht mit den vielen Lachfalten vor Augen. Als sie den Satz zum ersten Mal gehört hatte, war sie erst vierundzwanzig Jahre alt gewesen, jetzt war sie fünfzig. Wo waren die Jahre geblieben? Hätte sie doch nur Kontakt zu ihm aufgenommen, als noch Zeit dafür gewesen war.
Sie atmete tief durch, legte den Kopf zur Seite und prägte sich die Neigung der Buchstaben und jeden kleinen Klecks ein, den Eriks Füllfederhalter hinterlassen hatte.
Dann nahm sie auch das zweite Blatt aus dem Umschlag und betrachtete es mit Tränen in den Augen. Sie hatte seither viele Diplome und Examenszeugnisse bekommen, aber dieses hier war das erste und mit Abstand das wichtigste. Erik Hanstholm hatte es für sie angefertigt, und das war großartig von ihm gewesen.
Diplom stand in zierlichen Blockbuchstaben oben in der Mitte und direkt darunter, verteilt auf drei Zeilen: Keiner, der das hier lesen kann, ist ein Analphabet.
Genau das stand da.
Sie wischte sich die Augen und presste die Lippen zusammen. Wie gedankenlos und egoistisch von ihr, dass sie ihm nie geschrieben hatte. Wie würde sich ihr Leben gestaltet haben ohne ihn und seine Frau Marianne? Nun war es zu spät. Nach längerer Krankheit verstorben, hatte es vor drei Jahren in der Todesanzeige geheißen.
Nach längerer Krankheit, was mochte das bedeuten?
Sie hatte Marianne Hanstholm geschrieben, um ihr zu kondolieren, aber die Briefe waren zurückgekommen. Vielleicht gab es sie auch nicht mehr, hatte Nete damals gedacht. Wer war noch übrig auf der Welt außer denen, die ihr Leben ruiniert hatten?
Keiner.
Nete faltete Brief und Diplom zusammen und steckte beides wieder in den Umschlag. Dann nahm sie einen Zinnteller aus dem Schrank und legte den braunen Umschlag darauf.
Als sie das brennende Streichholz daran hielt, der Rauch aufstieg und sich unter dem Stuck an der Decke ausbreitete, empfand sie zum ersten Mal seit dem Unfall keine Scham mehr.
Sie wartete, bis die Flammen erloschen, rieb die Asche zu Pulver und trug den Zinnteller zur Fensterbank im Wohnzimmer.
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