Carl Mørck, Sonderdezernat Q Bd.4 - Verachtung
da, starrte auf den Briefumschlag und überlegte, was drinstehen könnte.
Nete Hermansen. Wie lange war das her!
Im Spätsommer 1956, genau ein halbes Jahr nach ihrem zweiundzwanzigsten Geburtstag, fuhr Gitte, den Kopf voller Erwartungen, mit dem Postschiff von Korsør nach Sprogø. Über den Ort, der für mehrere Jahre ihr Zuhause sein würde, wusste sie so gut wie nichts.
Sie hatte den Oberarzt von Brejning persönlich aufgesucht, um zu hören, ob die Stelle etwas für sie sein könnte. Der Blick seiner warmen, klugen Augen hinter der dicken Hornbrille war Antwort genug gewesen. Ein so junges, gesundes und kerniges Mädchen wie sie könne an einem Ort wie Sprogø viel Gutes tun, hatte er gesagt, und damit war es entschieden.
Sie hatte Erfahrung mit Schwachsinnigen. Manche waren ziemlich heftig, aber die meisten waren ganz umgänglich. Draußen auf der Insel seien die Mädchen nicht ganz so dumm wie die in ihrer Abteilung in Brejning, hieß es, und das kam ihr entgegen.
Sie standen in Grüppchen unten am Kai in ihren langen karierten Kleidern, breit lächelnd und eifrig winkend, aber Gitte dachte nur, dass ihre Haare schrecklich aussahen und dass sie viel zu penetrant grienten. Erst nach ihrer Ankunft hatte sie erfahren, dass die Frau, die abzulösen sie gekommen war, bei allen verhasst gewesen war. Dass die Mädchen die Tage gezählt hatten, bis das Postboot kommen und diese Frau wegbringen würde.
Vielleicht hatten sie sie deshalb zur Begrüßung umarmt und regelrecht abgeklopft.
»Hu, dich kann ich gut leiden!«, rief ein Mädchen, das dreimal so dick war wie die anderen, und umarmte Gitte so fest, dass sie tagelang am ganzen Körper blaue Flecken hatte. Das war Viola, deren überschwängliche Art Gitte schon bald zu viel wurde.
Sie war also sehnlichst erwartet worden.
»Ich ersehe aus Ihren Papieren, dass Sie sich ›Krankenschwester‹ nennen. Nur damit Sie es wissen: Ich werde diese Bezeichnung nicht unterstützen, werde mich aber auch nicht querstellen, wenn Sie selbst sich weiterhin so nennen wollen. Wir haben hier kein ausgebildetes Personal, insofern wertet das in den Augen der übrigen Mitarbeiter ihre eigene Arbeit vielleicht ein wenig auf. Wollen wir so verbleiben?«
In den Räumen der Heimleiterin wurde nicht gelächelt. Aber vor den Fenstern auf dem Hof standen ein paar Mädchen, die sich vor Lachen ausschütten wollten und Gitte verstohlene Blicke zuwarfen. Wie Vogelscheuchen mit Topfhaarschnitt, so wirkten sie.
»Ihre Papiere sind in Ordnung, aber Ihre langen Haare könnten bei den Mädchen Bedürfnisse wecken, die unerwünscht sind. Deshalb möchte ich Sie bitten, sie hochzustecken und ein Haarnetz zu tragen, solange Sie Umgang mit ihnen haben.
Ich habe veranlasst, dass Ihr Zimmer gereinigt und für Sie vorbereitet wird, aber ich erwarte von Ihnen, dass Sie sich künftig selbst um diese Dinge kümmern. Sie müssen wissen, dass wir hier sehr viel Wert auf Sauberkeit und Ordnung legen, mehr als dort, wo Sie herkommen. Immer saubere Kleidung, auch für die Mädchen, und die Morgenhygiene ist obligatorisch.«
Sie nickte Gitte zu in der Erwartung, dass diese ebenfalls nicken würde. Und das tat sie auch.
Nete fiel Gitte zum ersten Mal auf, als sie zwei Stunden später durch den Speisesaal der Mädchen zu der unmittelbar daran anschließenden Mitarbeiterkantine geführt wurde.
Sie saß am Fenster und blickte übers Wasser, als existierte nichts sonst für sie. Weder die anderen Mädchen, die dabeisaßen und munter plapperten, noch die dicke Viola, die Gitte ein lautes Hallo zurief. Auch das Essen auf dem Tisch konnte Nete nicht aus ihrer Träumerei reißen. Die Sonne fiel auf ihr Gesicht und formte Schatten - fast so, als seien die innersten Gedanken ans Licht gekommen. Schon in diesem kurzen Moment war Gitte verzaubert von ihr.
Als die Heimleiterin Gitte den Mädchen vorstellte, klatschten diese und winkten und riefen ihr ihre Namen entgegen. Nur Nete und das Mädchen, das ihr gegenübersaß, reagierten anders. Nete wandte ihr den Kopf zu und sah sie direkt an, als müsste sie zuerst einen unsichtbaren Panzer durchdringen, und das Mädchen gegenüber ließ seinen Blick herausfordernd über ihren Körper wandern.
»Wie heißt dieses stille Mädchen dort am Fenster?«, fragte Gitte, nachdem sie sich an den Mitarbeitertisch gesetzt hatte.
»Wen meinen Sie?«, fragte die Heimleiterin.
»Die, die gegenüber dem Mädchen mit dem provozierenden Blick sitzt.«
»Gegenüber Rita? Ach so,
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