Caroline
Vorderseite war verlassen.
Nijman führte uns durch einen Seiteneingang in einen Flur und verschwand in einem der Büros. Kurz darauf kehrte er zurück und wir folgten ihm zum Ende des Ganges. Dort roch es nach Paraffin und, verborgen hinter Desinfektionsmitteln, nach Tod. Ein Mann in weißem Kittel stand in einer Türöffnung, winkte uns zu sich und zog Handschuhe an. »Die Leiche wurde behandelt«, sagte er, »aber trotzdem …« Er beendete seinen Satz nicht, sondern reichte stattdessen Nijman einen Tiegel mit stark nach Eukalyptus riechender Vaseline.
Ich hielt Nel zurück und sagte: »Lass mich zuerst, okay?«
Sie schüttelte widerspenstig den Kopf. »Kommt nicht in Frage.«
Nijman musterte sie, zuckte mit den Schultern und bedeutete uns mit einer Handbewegung, vorauszugehen. Nel und ich schmierten uns Vaseline in die Nasenlöcher. Nijman murmelte: »Ich habe sie schon gesehen«, und blieb in der Tür stehen.
Der Mann im weißen Kittel wartete neben einer mit einem olivgrünen Laken bedeckten Bahre in einem kleinen fensterlosen Raum. Ein Ventilator in der Decke saugte hörbar die Luft ab. Der Mann schlug das Laken zurück. Darunter lag ein luftdichter Sack aus schwarzem Kunststoff. Er zog den Reißverschluss dreißig Zentimeter weit auf und hielt mit behandschuhten Händen die beiden Hälften auseinander.
Die Vaseline half, doch mein Gehirn war auf Leichen konditioniert, bei deren Bergung aus dem Wasser ich dabei gewesen war, und erinnerte sich an den Gestank, der aus dem Sack herausquoll.
Ich sah den groben, entstellten Rest eines Gesichts sowie einen haarlosen Schädel. Große Stücke Haut und Fleisch hatten sich abgelöst, sodass nur ein unkenntlicher Klumpen zurückgeblieben war, die grünen und scharlachroten Zeichen von Verwesung und Gasbildung, Verletzungen durch Blutsauger und Nagespuren von Ungeziefer. Man erkannte einen Nasenstumpf, eine Öffnung mit Zähnen. Das linke Auge war unter einer Schicht von durchweichtem Gewebe verborgen, es konnte aber auch ganz weg sein.
Das andere Auge war noch da. Es schaute starr nach oben, aus einem Bett von Gewebe und Knochen heraus. Es war blau, das mattgraue, undefinierbare Blau zwischen Himmel und Wolken, an das ich mich erinnerte. Das Auge von Caroline.
Ich war froh, dass ich nicht der Autopsie hatte beiwohnen müssen, obwohl die Schädeldecke nicht geöffnet worden war und der Gerichtsmediziner sich auf die Suche nach Brüchen und Beschädigungen sowie die Entnahme von Proben des Gewebes und von Organresten für das Labor beschränkt hatte. Ich konnte zwar einiges vertragen, aber etwas derart Grauenvolles ging selbst mir über die Hutschnur.
Ich spürte Nel neben mir. Ich hielt ihre Hand fest. Sie betrachtete das, was von Caroline übrig war, so lange, dass es allmählich wie eine Selbstbestrafung wirkte. Ich nickte dem Mann in Weiß zu. Er schloss den Reißverschluss mit einer definitiven Geste und ich zog Nel hinter mir her aus dem Raum hinaus.
Es gab eine Toilette, in der wir mit Papiertüchern das Zeug aus unseren Nasenlöchern wischen konnten. Der Gestank blieb. Ich wusch mir ausgiebig die Hände, obwohl ich nichts angefasst hatte, und ich sah Nel am Waschbecken neben mir dasselbe tun.
»Geht’s?«, fragte ich.
»Ich lebe noch.«
Im Spiegel sah ich, wie die Tür aufging und Nijman seinen Kopf hereinsteckte. Ich hielt fünf Finger hoch – fünf Minuten – und gab ihm einen Wink, uns allein zu lassen. Die Tür ging wieder zu. Aus den Toilettenkabinen kam kein Laut, doch zur Sicherheit ging ich einmal an allen Türen entlang, während ich mir die Hände abtrocknete. Alle Anzeigen standen auf frei. Wir waren allein.
Ich stellte mich hinter Nel und sagte leise: »Wir sollten Nijman über die Geschichte mit Drenthe informieren, okay? Dann kann er dem Untersuchungsrichter in Assen mitteilen, dass Carolines DNA zur Verfügung steht.«
»Davon hat das Gericht aber nichts, wenn sich der Pfarrer weigert, eine Probe abzugeben.«
»Das kann er nicht.«
Nel stützte sich mit beiden Händen auf dem Waschbecken ab und schaute mich im Spiegel an. »Vor zwei Monaten? Kurz davor befand sich Caroline auf der Suche nach ihrem Vater. Sie war in Drenthe. Hat sie ihn gefunden?«
»Ich wüsste nicht wie.«
»Wir haben ihn auch aufgespürt. Selbst wenn sie nicht bei Bertus war, hätte es ja noch andere Alternativen gegeben. Sie brauchte nur in ein Archiv zu gehen und in den Drenther Zeitungen aus jener Zeit nachzuforschen.«
»Dann wäre sie trotzdem bei
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