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Carre, John le

Carre, John le

Titel: Carre, John le Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dame Koenig As Spion (Smiley Bd 5)
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Augen hinunter
auf die Straße und ich rede auf ihn ein, unaufhörlich: >Bleib, nicht
springen, bleib. < Wobei mir natürlich nicht klar war, daß es um meine
eigene Unsicherheit ging, nicht um die seine. Am frühen Morgen bekam ich vom
Arzt eine Spritze, die das Fieber senken sollte. Ich hätte den Fall aufgeben
sollen, um einen Ersatzmann telegrafieren. Ich hätte noch warten sollen, ehe
ich wieder ins Gefängnis ging, aber ich hatte nur noch Gerstmann im Sinn: ich
mußte hören, wie er sich entschieden hatte. Schon um acht ließ ich mich zum
Zellenblock führen. Er saß stocksteif auf einer Bank; zum erstenmal sah ich den
Soldaten in ihm und wußte, daß er genau wie ich die ganze Nacht nicht
geschlafen hatte. Er war unrasiert und durch den silbernen Flaum auf den Wangen
sah er aus wie ein alter Mann. Auf anderen Bänken schliefen Inder, und mit
seinem roten Kittel und dem silbrigen Teint wirkte er zwischen ihnen sehr weiß.
Er hielt Anns Feuerzeug in der Hand; das Zigarettenpäckchen lag neben ihm auf
der Bank - unberührt. Ich schloß daraus, daß er die Nacht und die verschmähten
Zigaretten benutzt hatte, um zu prüfen, ob er dem Gefängnis und den Verhören
und dem Tod ins Auge blicken könne. Ein Blick in sein Gesicht sagte mir, daß er
die Prüfung bestanden hatte. Ich drang nicht in ihn«, sagte Smiley und fuhr in
einem Zug fort. »Er hätte sich keinen blauen Dunst vormachen lassen. Seine
Maschine flog am späteren Vormittag ab; ich hatte noch zwei Stunden Zeit. Ich
bin der schlechteste Advokat der Welt, aber in diesen zwei Stunden versuchte
ich alle Gründe anzuführen, die gegen diesen Flug nach Moskau sprachen.
Verstehen Sie, ich glaubte, in seinem Gesicht etwas erblickt zu haben, was dem
bloßen Dogma haushoch überlegen war; und ich begriff nicht, daß das nur meine
eigene Reflektion war. Ich hatte mir eingeredet, Gerstmann sei im Grunde
normalen menschlichen Argumenten zugänglich, wenn sie von einem Mann seines
Alters und Berufs und, nun ja, seiner eigenen Ausdauer kämen. Ich versprach ihm
nicht Reichtum und Frauen und billige Butter, es war klar, daß er dafür keine
Verwendung hatte. Ich besaß nun wenigstens genügend Verstand, um das Thema
Ehefrau beiseite zu lassen. Ich hielt ihm keine Reden über die Freiheit, was
immer das bedeuten mag, oder über den ehrlichen guten Willen des Westens:
außerdem war das damals nicht der richtige Zeitpunkt, um diese Geschichte
aufzutischen, und ich selber befand mich in keiner eindeutigen ideologischen
Position. Ich versuchte es mit der Kameradschaft. >Sehen Sie<, sagte ich,
>wir beide werden alt, und wir beide haben unser Leben damit zugebracht, in
den Systemen des anderen die schwachen Stellen zu suchen. Ich durchschaue die
Werte des Ostens ebenso, wie Sie die des Westens durchschauen. Wir haben bestimmt
beide bis zum Überdruß die technischen Siege dieses elenden Krieges
ausgekostet. Aber jetzt wollen Ihre eigenen Leute Sie abschießen. Finden Sie es
nicht an der Zeit, zuzugeben, daß Ihre Seite genauso wenig wert ist wie die
meine? In unserem Metier<, sagte ich zu ihm, >bekommen wir doch immer nur
das Negative zu sehen. In diesem Sinn hat keiner von uns beiden mehr ein Ziel.
Als wir jung waren, verschrieben wir uns beide großen Idealen<,
wieder spürte ich, daß etwas in ihm vorging, Sibirien, ich hatte einen Nerv
getroffen, >aber das ist vorbei. Ja?< Ich drängte ihn, mir nur dieses
eine zu beantworten: kam es ihm nicht in den Sinn, daß er und ich auf
verschiedenen Wegen sehr wohl zum gleichen Schluß über das Leben gekommen sein
konnten? Selbst wenn meine Schlüsse nach seinem Denken reaktionär sein
mochten, waren nicht unsere Werke identisch? Glaubte er zum Beispiel nicht
auch, daß die Politik im allgemeinen bedeutungslos war? Daß für ihn im Leben
jetzt nur noch das Besondere wichtig war? Daß die großen Pläne in den Händen
der Politiker nichts anderes hervorbringen als neue Formen des alten Elends?
Und daß daher sein Leben, die Rettung seines Lebens vor einem der vielen
sinnlosen Erschießungskommandos, wichtiger war - moralisch, ethisch wichtiger
-, als das Pflichtgefühl oder die Treue oder der Ehrenstandpunkt oder, was
immer es sein mochte, das ihn zur Selbstzerstörung zwang? Kam es ihm nicht in
den Sinn, nach all den vielen Reisen seines Lebens, die Integrität eines
Systems in Frage zu stellen, das kaltblütig vorhatte, ihn für Missetaten zu
erschießen, die er niemals begangen hatte? Ich bat ihn — ja, ich flehte ihn
wohl

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