Carre, John le
ganz
egal. Wir haben jetzt Karlas Verfahrenstechnik aus erster Hand kennengelernt.«
Der Priester versicherte Grigoriew,
daß er ihm nichts verschweigen werde - was, wie jedermann im Zimmer, mit
Ausnahme Grigoriews, sofort begriff, im Klartext hieß, daß er ihm sehr wohl
etwas zu verschweigen gedachte.
In einer psychiatrischen
Privatklinik in der Schweiz, sagte der Priester, lebe seit kurzem eine junge
Russin, die an Schizophrenie im fortgeschrittenen Stadium leide: »In der
Sowjetunion ist man mit dieser Art Krankheit nicht ausreichend vertraut«, sagte
der Priester. Grigoriew erinnerte sich, daß diese kategorische Erklärung des
Priesters ihn seltsam berührte. »Diagnose und Therapie werden allzu häufig
durch politische Erwägungen kompliziert«, fuhr der Priester fort. »Während der
vierjährigen Behandlung in unseren Anstalten wurde das Mädchen Alexandra von
den Ärzten aller möglichen Dinge bezichtigt. >Paranoides Reformertum und
Wahnvorstellungen . . . Überhöhtes Selbstwertgefühl .
Mangelhafte soziale
Anpassungsfähigkeit . . . Überschätzung der eigenen Fähigkeiten . . .
Bourgeoise Dekadenz des Sexualverhaltens.< Die Sowjetärzte hätten ihr
wiederholt befohlen, solche abwegigen Ideen aufzugeben. »Das ist nicht
Medizin«, sagte der Priester unglücklich zu Grigoriew, »das ist Politik. In
Schweizer Kliniken nimmt man solchen Fällen gegenüber eine weit
fortschrittlichere Haltung ein. Grigoriew, das Kind Alexandra mußte in die
Schweiz gebracht werden!«
Inzwischen war es Grigoriew klar
geworden, daß der hohe Funktionär persönlichen Anteil an dem Problem des
Mädchens nahm und mit jedem seiner Aspekte vertraut war. Schon fing Grigoriew
selber an, Mitleid zu empfinden. Sie sei die Tochter eines Sowjethelden - sagte
der Priester -, eines ehemaligen Offiziers der Roten Armee, der jetzt, als
Verräter am Sowjetstaat getarnt, in sehr bedrängten Verhältnissen unter lauter
zaristischen Konterrevolutionären in Paris lebe.
»Sein Name«, sagte der Priester
jetzt und weihte damit Grigoriew in das größte aller Geheimnisse ein, »sein
Name«, sagte er, »ist Oberst Ostrakow. Er ist einer unserer besten und
aktivsten Geheimagenten. Er liefert uns hundertprozentig zuverlässiges
Nachrichtenmaterial über revolutionsfeindliche Verschwörer in Paris.«
Niemand im Zimmer, sagt Toby,
verriet die geringste Überraschung ob dieser Glorifizierung eines toten
russischen Deserteurs.
Der Priester, sagte Grigoriew, habe
sich nun angeschickt, die Lebensweise des heldenhaften Agenten Ostrakow zu
schildern und gleichzeitig Grigoriew in die Mysterien der geheimdienstlichen
Tätigkeit einzuführen. Um der Wachsamkeit imperialistischer Spionage-Abwehr zu
entgehen, erklärte der Priester, müsse man für einen Agenten eine Legende oder
gefälschte Biographie erfinden, die ihn für anti-sowjetische Elemente
attraktiv mache. Ostrakow wurde daher nach außen hin zum Deserteur aus der
Roten Armee, der nach Westberlin »geflüchtet« sei und von dort aus nach Paris,
während er seine Frau und eine Tochter in Moskau zurückgelassen habe. Aber um
Ostrakows Ansehen bei den Pariser Emigranten aufrechtzuerhalten, sei es
logischerweise notwendig, daß seine Frau für die verräterischen Handlungen
ihres Mannes büßen mußte.
»Denn schließlich«, sagte der
Priester, »falls imperialistische Spione melden sollten, daß die Ostrakowa,
Ehefrau eines Deserteurs und Abtrünnigen, in Moskau in guten Verhältnissen
lebe-zum Beispiel die Bezüge ihres Mannes weiterhin erhalte oder noch dieselbe
Wohnung innehabe-, stellen Sie sich vor, wie sich das auf Ostrakows
Glaubwürdigkeit auswirken würde!«
Grigoriew sagte, das könne er sich
gut vorstellen. Der Priester, fügte er beiläufig hinzu, habe in keiner Weise
die Autorität herausgekehrt, er habe vielmehr Grigoriew eher wie
seinesgleichen behandelt, zweifellos mit Rücksicht auf dessen akademische
Qualifikation.
»Zweifellos«, sagte Smiley und
machte sich eine Notiz.
Daher, habe der Priester ein wenig
übergangslos gesagt, seien die Ostrakowa und ihre Tochter mit voller Billigung
ihres Ehemannes in eine entlegene Provinz verbracht worden, wo sie ein eigenes
Haus und andere Namen erhielten und sogar - bescheiden und selbstlos, wie sie
seien - eine unerläßliche neue Legende. So, sagte der Priester, sehe die
bittere Wirklichkeit jener Menschen aus, die sich für Sonderaufgaben zur
Verfügung stellten. Und bedenken Sie, Grigoriew - habe er in eindringlichem Ton
hinzugefügt -,
Weitere Kostenlose Bücher