Carre, John le
bedenken Sie, welche Wirkung diese Entbehrungen und Ausflüchte,
ganz zu schweigen von der Veränderung der Identität, auf ein empfindsames und
vielleicht schon damals labiles Mädchen haben mochten: ein abwesender Vater,
dessen Name sogar für immer aus ihrem Leben getilgt bleiben mußte! Eine Mutter,
die, ehe man sie in Sicherheit brachte, die ganze Wucht der öffentlichen
Schande zu ertragen hatte! Malen Sie sich selbst aus, beschwor der Priester ihn
- Sie, als Vater -, welche Belastung dies alles für das junge und zarte Gemüt
eines heranreifenden Mädchens bedeutete!
Überwältigt von diesem Wortschwall
beeilte Grigoriew sich zu sagen, daß er, als Vater, sich diese Belastung
unschwer ausmalen könne; und in diesem Moment ging Toby und vermutlich auch
allen anderen Anwesenden auf, daß Grigoriew genau das war, was er zu sein
behauptete: ein gutherziger und anständiger Mensch in den Fängen von
Ereignissen, die sich seinem Verständnis und seiner Kontrolle entzogen.
Während der letzten Jahre, fuhr der
Priester fort, und seine Stimme klang jetzt dumpf und bekümmert, sei das
Mädchen Alexandra - oder Tatjana, wie sie sich selber nannte - in der Provinz,
in der sie lebte, sittenlos und asozial geworden. Auf die Zwänge, denen ihre
Situation sie unterwarf, habe sie mit verschiedenen kriminellen Handlungen
reagiert, zu denen Brandstiftung und Ladendiebstahl zählten. Sie habe sich mit
pseudointellektuellen Verbrechern und den denkbar übelsten anti-sozialistischen
Elementen eingelassen. Sie habe sich hemmungslos Männern hingegeben, oft
mehreren an einem Tag. Als sie die ersten Male festgenommen wurde, sei es dem
Priester und seinen Leuten noch möglich gewesen, den Lauf der Gerechtigkeit aufzuhalten.
Doch in der Folge mußte dieser Beistand aus Sicherheitsgründen eingestellt
werden, und Alexandra sei wiederholt in staatliche psychiatrische Anstalten
eingewiesen worden, die auf die Behandlung von erblichen sozialen
Anpassungsschwierigkeiten spezialisiert waren - die negativen Resultate habe
er bereits geschildert.
»Außerdem mußte sie mehrmals in
gewöhnlichen Strafanstalten einsitzen«, sagte der Priester leise. Und, laut
Grigoriew, beschloß er seine traurige Erzählung wie folgt: »Daher werden Sie,
mein lieber Grigoriew, als Akademiker, als Vater, ohne weiteres begreifen, wie
tragisch die immer betrüblicheren Nachrichten von seiner Tochter sich auf die
Nützlichkeit unseres heldenhaften Agenten Ostrakow in seinem einsamen Pariser
Exil auswirkten.« Wiederum habe ihn, Grigoriew, das ungewöhnliche Maß von
Mitgefühl beeindruckt - er würde sogar von einem Gefühl unmittelbarer
persönlicher Verantwortlichkeit sprechen -, das der Priester bei seinem Zuhörer
zu wecken vermochte.
In unverändert dürrem Ton machte
Smiley hier einen weiteren Einwurf.
»Und die Mutter ist jetzt wo, Herr
Botschaftsrat, nach Angabe Ihres Priesters?« fragte er.
»Tot«, erwiderte Grigoriew. »Sie
starb in der Provinz. Der Provinz, in die sie verbracht worden war. Natürlich
wurde sie unter einem anderen Namen begraben. Nach dem, was er mir erzählte,
starb sie an gebrochenem Herzen. Auch das bürdete dem heldenhaften Agenten des
Priesters in Paris eine schwere Last auf«, fügte er hinzu. »Und den Behörden in
Rußland ebenfalls.«
»Natürlich«, sagte Smiley, und
seine Feierlichkeit übertrug sich auf die vier regungslosen Gestalten, die
rings im Zimmer aufgestellt waren.
Schließlich, sagte Grigoriew, sei
der Priester zu dem eigentlichen Grund für Grigoriews Vorladung gekommen. Der
Tod der Ostrakowa, zusammen mit dem furchtbaren Schicksal Alexandras, habe im
Leben des heldenhaften Außenagenten eine schwere Krise heraufbeschworen. Kurze
Zeit sei er sogar versucht gewesen, seine eminent wichtige Arbeit in Paris
aufzugeben, um nach Rußland zurückzukehren und sich seines zerrütteten und
mutterlosen Kindes anzunehmen. Aber letzten Endes sei man doch zu einer anderen
Lösung gelangt. Da Ostrakow nicht nach Rußland kommen konnte, mußte seine
Tochter in den Westen gebracht und in einer Privatklinik gepflegt werden, die
dem Vater zugänglich war, wann immer er das Mädchen zu besuchen wünschte.
Frankreich war für diesen Zweck zu gefährlich, aber jenseits der Grenze, in der
Schweiz, dem argwöhnischen Auge von Ostrakows konterrevolutionären Kumpanen
entzogen, konnte die Behandlung durchgeführt werden. Als französischer
Staatsbürger hatte der Vater die Ausreisegenehmigung für seine Tochter fordern
und die
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