Carre, John le
einen Bogen
Briefpapier, auf den sie nur das eine Wort »Darling« geworfen hatte, weiter
nichts, vielleicht unschlüssig, an welchen Darling sie schreiben sollte. Zum
Beispiel Zündholzbriefchen aus Restaurants, in denen er nie gewesen war, und
Briefe in einer Handschrift, die er nicht kannte. Aus diesem verwirrenden
Durcheinander fischte er eine große viktorianische Lupe mit Perlmuttgriff, die
Ann zur Entzifferung der Auflösungen von nie ganz ausgefüllten Kreuzworträtseln
benutzte. Derart ausgerüstet - die Abfolge dieser Handlungen ermangelte
aufgrund seiner Müdigkeit der absoluten Logik - legte er eine Mahler-Platte
auf, die Ann ihm geschenkt hatte, und setzte sich in den Ledersessel, an dem
ein Lesepult aus Mahagoni befestigt war, das man wie ein Bett-Tablett vor den
Magen schwenken konnte. Unvorsichtigerweise schloß er die Augen, während er
teils auf die Musik, teils auf das Platsch-Platsch des tröpfelnden Fotos und
teils auf das unwillige Knistern des Feuers lauschte. Als er dreißig Minuten
später hochfuhr, war der Abzug trocken, und der Mahler drehte sich stumm auf
dem Plattenteller.
Er starrte auf das Bild, wobei er
eine Hand an die Brille legte und mit der anderen die Lupe langsam über dem
Abzug kreisen ließ. Es war ein Gruppenbild, aber es handelte sich um nichts
Politisches und auch nicht um eine Badepartie, denn niemand trug Badekleidung.
Die Gruppe bestand aus einem Quartett, zwei Damen, zwei Herren, und sie
lagerten auf Polstersofas um einen niedrigen, mit Zigaretten und Flaschen
beladenen Tisch. Die Damen waren nackt und jung und hübsch. Die Herren, die
kaum besser bedeckt waren, lagen nebeneinander, und die Mädchen hatten sich
pflichtschuldigst um ihren Erwählten geschlungen. Das Licht auf dem Foto war
fahl und unirdisch, und kraft der geringen Kenntnisse, die er auf diesem
Gebiet besaß, schloß Smiley, daß zur Aufnahme ein hochempfindlicher Film
verwendet worden war, denn der Abzug war körnig. Die Oberflächenstruktur
erinnerte ihn, wenn er es sich recht überlegte, an Aufnahmen von
Terroristen-Geiseln, nur daß die Vier auf dem Bild miteinander beschäftigt
waren, während Geiseln immer in die Linse starren wie in einen Gewehrlauf. Auf
der Suche nach dem, was er operative Information genannt haben würde, versuchte
er, die vermutliche Stellung der Kamera auszumachen und kam zu der Annahme, daß
sie sich hoch über den Akteuren befunden haben mußte. Die Vier schienen in der
Mitte einer Grube zu liegen, unter dem Auge der Kamera, die auf sie
herabblickte. Ein sehr dunkler Schatten - eine Balustrade, ein Fenstersims oder
vielleicht auch nur die Schulter von irgendjemandem - verdeckte einen Teil des
Vordergrunds. Als habe trotz des günstigen strategischen Punkts nur die Hälfte
des Objektivs es gewagt, über die Sichtlinie zu linsen.
Hier versuchte Smiley seine erste
Schlußfolgerung. Ein Schritt - kein großer, aber er hatte sich bereits
genug große Schritte im Geist zurechtgelegt. Nennen wir es einen technischen
Schritt: einen bescheidenen technischen Schritt. Das Bild trug alle Anzeichen
dessen, was man in einschlägigen Kreisen ein Meuchelfoto nannte.
Meuchlings aufgenommen mit der Absicht, jemanden zu verbrennen, das
heißt zu erpressen. Aber wen erpressen? Und wozu? Während er darüber
nachdachte, schlief Smiley wahrscheinlich ein. Das Telefon stand auf Anns
kleinem Schreibtisch, und es mußte drei- oder viermal geklingelt haben, ehe er
es hörte.
»Ja, Oliver?« sagte Smiley vorsichtig.
»Endlich, George. Hab's schon
früher versucht. Gut zurückgekommen, nehme ich an?«
»Von wo?« fragte Smiley.
Lacon geruhte darauf nicht zu
antworten. »Hatte das Gefühl, Ihnen einen Anruf schuldig zu sein. Wir trennten
uns ein bißchen mißgestimmt. Ich war schroff. Zuviel auf dem Hals. Bitte um
Entschuldigung. Wie steht's? Total erledigt? Fertig?«
Im Hintergrund hörte Smiley Lacons
Töchter darüber zanken, wieviel Miete für ein Hotel an der Parkallee zu zahlen
sei. Er hat sie übers Wochenende zu Hause, dachte Smiley.
»Hatte das Innenministerium wieder
an der Strippe, George«, fuhr Lacon leiser fort, ohne auf Smileys Antwort zu
warten. »Der gerichtsmedizinische Befund liegt vor, die Leiche kann freigegeben
werden. Baldige Einäscherung wird empfohlen. Ich dachte, wenn ich Ihnen den
Namen des Bestattungsinstituts mitteile, können Sie ihn an die Betroffenen
weitergeben. Ohne Quellenangabe, versteht sich. Haben Sie die Pressemeldung gesehen?
Mir schien sie gekonnt.
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