Carre, John le
schien sie - wenn es nicht purer Zufall war - wegen des Kontrastes
ausgewählt zu haben, den sie bildeten. Das Mädchen zur Linken war blond und
feingliedrig, von fast klassischem Wuchs, mit langen Oberschenkeln und kleinen
hohen Brüsten. Ihre Gefährtin dagegen war dunkelhaarig und gedrungen, mit
ausladenden Hüften und breiten, vielleicht eurasischen Zügen. Die Blonde trug,
wie er feststellte, ankerförmige Ohrringe, was ihm ungewöhnlich erschien, denn
nach seiner wenn auch beschränkten Erfahrung mit dem schwachen Geschlecht waren
Ohrringe das erste, was Frauen ablegten. Ann brauchte nur ohne Ohrringe
fortzugehen, und schon wurde ihm das Herz schwer. Sonst fiel ihm zu keinem der
beiden Mädchen irgendetwas Schlaues ein, und so wandte er nach einem weiteren
kräftigen Schluck Whisky pur seine Aufmerksamkeit wieder den Männern zu -
denen sie, wenn er ehrlich sein wollte, von Anfang an bei der Betrachtung des
Bildes in erster Linie gegolten hatte. Wie die Mädchen, so unterschieden sich
auch die Männer scharf voneinander, und bei ihnen kam hinzu, daß - da sie
erheblich älter waren - die Unterschiede deutlicher hervortraten und die
Charaktereigenschaften verrieten. Der Mann mit dem blonden Mädchen war hellhäutig
und wirkte auf den ersten Blick stumpfsinnig, während der Mann mit der
Schwarzen nicht nur dunkelhäutig war, sondern Züge von romanischer, ja,
levantinischer Lebhaftigkeit besaß sowie ein ansteckendes Lächeln, das einzig
Sympathische auf dem Foto. Der helle Mann war breit und unförmig, der dunkle
Mann war klein und witzig genug, um sein Hofnarr zu sein: ein Kobold mit einem
freundlichen Gesicht und Haarbüscheln, die wie Hörner über den Ohren
aufgezwirbelt waren.
Eine plötzliche Nervosität - die
sich später als so etwas wie eine Vorahnung erweisen sollte - veranlaßte ihn,
sich zuerst den Hellhäutigen vorzunehmen. Es war eine Stunde, in der man sich
bei Fremden sicherer fühlte.
Der Oberkörper des Mannes war
robust, aber nicht durchtrainiert, die Gliedmaßen schwer, ohne den Eindruck
von Kraft zu vermitteln. Die Helle von Haut und Haaren betonte seine Beleibtheit.
Die Hände, von denen eine auf der Hüfte, die andere um die Taille des Mädchens
lag, waren fett und plump. Smiley ließ die Lupe langsam über die nackte Brust
zum Kopf hochgleiten. Mit vierzig, hatte ein kluger Mann einmal drohend
geschrieben, bekommt der Mensch das Gesicht, das er verdient. Smiley
bezweifelte das. Er hatte empfindsame Seelen gekannt, die zu lebenslanger Haft
hinter einer abstoßenden Fassade verdammt gewesen waren, und Verbrecher mit
Engelsgesichtern. Wie auch immer, es war kein Schmuckstück von einem Gesicht,
und die Kamera hatte es zudem nicht von seiner vorteilhaftesten Seite
aufgenommen. Charakterlich schien es in zwei Teile zu zerfallen: die untere
Partie, die zu einem Grinsen fieser Hochstimmung verzogen war, während der
Mann, wie der geöffnete Mund vermuten ließ, etwas zu seinem Gefährten sagte;
die obere, die von zwei kleinen blassen Augen beherrscht wurde, in deren
Winkeln weder Fröhlichkeit nistete noch eine Spur von Hochstimmung, und die mit
der kalten Ungeniertheit eines Kindes aus ihrem teigigen Umfeld blickten. Die
Nase war platt, das Haar voll und der Schnitt mitteleuropäisch.
Gierig, würde Ann gesagt haben, die
dazu neigte, ein absolutes Urteil über Leute zu fällen, deren Konterfei sie in
der Zeitung gesehen hatte. Gierig, schwach, lasterhaft. Meiden. Nur schade,
daß sie bei Haydon nicht zu demselben Schluß gekommen war, zumindest nicht
rechtzeitig.
Smiley ging wieder in die Küche,
benetzte sich das Gesicht, erinnerte sich dann, daß er eigentlich Wasser für
seinen Whisky hatte holen wollen. Er ließ sich wieder in dem Lesesessel nieder
und schob die Lupe über den zweiten Mann, den Hofnarren. Der Whisky hielt ihn
wach und machte ihn zugleich schläfrig. Warum rief sie nicht nochmals an?
dachte er. Wenn sie nochmals anruft, geh ich zu ihr. Doch in Wirklichkeit war
sein Denken ganz von diesem zweiten Gesicht in Anspruch genommen, weil die
Vertrautheit darin ihn verwirrte, so wie der Ausdruck beschwörender
Komplizenschaft bereits Willem und die Ostrakowa verwirrt hatte. Smiley
betrachtete das Gesicht, und seine Müdigkeit schwand; er schien neue Kraft aus
ihm zu schöpfen. Manche Gesichter sind uns, wie Willem an jenem Morgen gesagt
hatte, bekannt, noch ehe wir sie sahen; andere sehen wir ein einziges Mal und
erinnern uns unser ganzes Leben lang an sie; wieder andere sehen
Weitere Kostenlose Bücher