Carre, John le -Ein Mord erster Klasse (Smiley Bd 2)
niemand interessierte
sich wirklich für uns. Sie taten selbstverständlich alle so, als seien sie
furchtbar eingenommen von uns, aber es war Stella, die wirklich...«
Dorothy
D'Arcy stürzte sich auf sie. »Mrs. Snow«, sagte sie energisch, »ich wollte mit
Ihnen sprechen. Ich möchte, daß Sie Stella Rodes Job bei den Flüchtlingen
übernehmen.« Sie warf einen abschätzenden Blick in Simons Richtung: »Der
Direktor ist an den Flüchtlingen sehr interessiert.«
»Du meine
Güte!« antwortete Ann Snow erschrocken. »Ich könnte nicht, unmöglich, Miss
D'Arcy, ich...«
»Sie
könnten nicht? Warum könnten Sie nicht? Sie haben doch Mrs. Rode bei ihrem
Stand im Basar geholfen, oder?«
»Daher hat
sie also ihre Kleider bekommen«, hauchte Shane hinter ihnen.
Ann
verhedderte sich immer mehr:
»Aber... Nun,
ich habe nicht Stellas Energie, verstehen Sie mich; und außerdem war sie
Baptistin: alle Ortsansässigen halfen ihr, gaben ihr Sachen, und alle mochten
sie leiden. Bei mir wäre das anders.«
»Lauter
verdammter Unsinn«, erklärte Miss D'Arcy, die zu allen, die jünger waren als
sie, sprach, als seien sie Bediente oder unartige Kinder; und Shane Hecht sagte
neben ihr: »Baptisten sind doch die Leute, die keine eigenen Kirchenstühle
mögen, nicht? Sie haben ja so recht - man hat das Gefühl, wenn man schon dafür
bezahlt hat, dann muß man auch hingehen.«
Der
Hilfsgeistliche, der sich in einer Ecke über Cricket unterhalten hatte, fühlte
sich zu mildem Protest veranlaßt: »Nein, wirklich, Mrs. Hecht, der eigene
Kirchenstuhl hatte viele Vorteile...« und ließ sich auf eine weitschweifige
Apologie des alten Brauchs ein, der Shane mit allen Anzeichen eifrigster
Teilnahme lauschte. Als er endlich fertig war, sagte sie: »Danke, William, mein
Bester, so süß«, wandte ihm den Rücken zu und fügte für Smiley im
Bühnengeflüster hinzu: »William Trumper - einer von Charles' alten Schülern - solch
ein Triumph, als er sein Abitur bestand.«
Smiley,
erpicht darauf, sich von Shane Hechts Rache an dem Hilfsgeistlichen zu
distanzieren, wandte sich Ann Snow zu, aber diese war noch immer Miss D'Arcys
karitativen Absichten ausgeliefert, und Shane redete noch immer auf ihn ein:
»Der einzige Smiley, von dem ich je gehört habe, heiratete Lady Ann Sercombe am
Ende des Krieges. Sie verließ ihn natürlich bald danach. Eine sehr merkwürdige
Verbindung. Ich habe gehört, er habe gar nicht zu ihr gepaßt. Sie war Lord
Sawleys Kusine, wissen Sie. Die Sawleys sind seit vierhundert Jahren mit Carne
verbunden. Der jetzige Erbe ist ein Schüler von Charles; wir dinieren oft im
Schloß. Ich habe nie gehört, was aus Ann Sercombe geworden ist... sie ging nach
Afrika... oder war es Indien? Nein, es war Amerika. So tragisch. Man spricht im
Schloß nicht darüber.« Einen Augenblick hörte der Lärm im Zimmer auf. Einen
Augenblick, nicht länger, konnte er nichts wahrnehmen als den beharrlichen
Blick, den Shane Hecht auf ihn richtete, und er wußte, daß sie auf eine Antwort
wartete. Und dann ließ sie ihn los, als wollte sie sagen: Ich könnte Sie
zerquetschen, sehen Sie, aber ich will's nicht. Ich werde Sie leben lassen; und
sie drehte sich um und ging davon.
Er richtete es so ein, daß er zur gleichen Zeit wie Ann
und Simon Snow aufbrach. Sie hatten einen alten Wagen und bestanden darauf,
Smiley zu seinem Hotel zurückzubringen. Unterwegs sagte er:
»Wenn Sie
nichts Besseres vorhaben, würde ich mich freuen, wenn ich Sie beide zum Dinner
in meinem Hotel einladen dürfte. Ich fürchte bloß, das Essen ist gräßlich.«
Die Snows
protestierten und nahmen an, und eine Viertelstunde später saßen alle drei in
einer Ecke des riesigen Speisesaals im Hotel »Sawley Arms«, zur großen
Verzweiflung von drei Kellnern und einem Dutzend Generationen von Lord Sawleys
Ahnen, aufgedunsenen Herren in abbröckelnden Ölfarben.
»Wir
lernten sie wirklich erst in unserem zweiten Semester kennen«, setzte Ann Snow
fort. »Stella verkehrte nicht viel mit den anderen Frauen - sie wußte damals
schon, warum. Sie ging nicht zu Kaffeegesellschaften und so weiter, daher war
es ein wirkliches Glück, daß wir uns trafen. Als wir hierherkamen, war kein
Lehrerhaus für uns verfügbar; wir mußten das erste Semester in einem Hotel
verbringen. Am Ende unseres zweiten Semesters zogen wir in ein kleines Haus in
der Bread Street. Der Umzug war ein Chaos - Simon hatte Prüfungen für die
Stipendienkandidaten, und wir waren so schrecklich pleite, daß
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