Carre, John le -Ein Mord erster Klasse (Smiley Bd 2)
Hotel im Schnee stand, und vom Turm der Abtei das
mühsame Glockenschlagen, das ihm zu Bett zu gehen befahl.
Smiley
zögerte, überquerte dann mit einem Achselzucken die Straße zum Hoteleingang,
stieg die Stufen hinauf und trat in das dürftige gelbe Licht der Halle. Langsam
ging er die Treppe nach oben.
Er
verabscheute das »Sawley Arms«. Das gedämpfte Licht in der Halle war typisch:
unwirksam, antiquiert und selbstgefällig. Wie die Kellner im Speisesaal und die
gedämpften Stimmen im Salon, wie sein eigenes scheußliches Zimmer mit den
blauen und vergoldeten Urnen und dem gerahmten Wandteppich, dem Bild eines
Gartens in Buckinghamshire.
Sein
Zimmer war bitterkalt; das Mädchen mußte das Fenster geöffnet haben. Er steckte
einen Shilling in den Zähler und stellte das Gas an. Das Feuer blubberte
mißmutig und ging aus. Murrend sah Smiley sich nach Schreibpapier um und fand,
sehr zu seiner Überraschung, etwas in der Schublade des Schreibtisches. Er zog
seinen Pyjama und seinen Schlafrock an und kroch ins Bett. Nachdem er da
ungemütlich einige Minuten gesessen hatte, stand er wieder auf, holte seinen
Mantel und breitete ihn über die Daunendecke. Ein Mantel, um sie zu wärmen...
Wie hieß
es in ihrer Aussage? »Eine gibt's, die wird's mir danken, das ist mein
Liebling, und ich nahm ihren Schmuck, für die Heiligen tat ich's, und einen
Mantel, um mich zu wärmen...« Der Mantel war Stella am letzten Mittwoch für die
Flüchtlinge gegeben worden. Nach der Art ihrer Aussage schien die Annahme
vernünftig, daß Janie den Mantel zur selben Zeit aus dem Schuppen genommen
hatte wie die Perlen von Stellas Leiche. Aber Dorothy D'Arcy war am
Freitagmorgen dort gewesen - natürlich, mit Mr. Cardew-, sie hatte an eben
diesem Abend auf ihrer Party darüber gesprochen: »Da war nichts am falschen
Platz - jedes Stück Kleidung, das sie hatte, war verpackt und adressiert -
»eine verdammt gute kleine Arbeiterin, muß ich sagen...« Warum hatte dann
Stella den Mantel nicht verpackt? Wenn sie alles andere verpackt hatte, warum
nicht auch den Mantel?
Oder hatte
Janie den Mantel früher am Tag gestohlen, noch ehe Stella ihr Paket machte?
Wenn es so war, dann bedeutete es eine gewisse Entlastung für Janie. Aber so
war es nicht. Es war nicht so, weil es völlig unwahrscheinlich war, daß Janie
am Nachmittag einen Mantel stehlen und am selben Abend zum Haus zurückkehren
würde.
»Beginn
doch beim Anfang«, murmelte Smiley etwas lehrhaft zu dem wappengeschmückten
Papier auf seinem Schoß. »Janie stahl den Mantel zu derselben Zeit, als sie
die Perlen stahl - das heißt, nachdem Stella tot war. Folglich war der Mantel
entweder nicht mit den anderen Kleidungsstücken verpackt worden oder...«
Oder was?
Oder jemand anders, jemand,
der nicht Stella Rode war, verpackte die Kleidungsstücke, nachdem Stella Rode
gestorben und ehe Dorothy D'Arcy und Mr. Cardew am Freitagmorgen nach North
Fields gekommen waren. Und warum, zum Teufel, dachte Smiley, sollte jemand das
tun?
Es war
eines von Smileys Grundprinzipien bei Nachforschungen gewesen, ob er sich mit
den Inkunabeln eines obskuren Dichters oder den mühsam gesammelten
Bruchstücken der Spionage befaßte, nicht weiter zu gehen, als das
Beweismaterial reichte. Hatte man einmal eine Tatsache logisch festgestellt,
dann durfte man ihr nicht mehr Bedeutung beimessen, als ihr zukam.
Dementsprechend spekulierte er nicht weiter über die bemerkenswerte Entdeckung,
die er gemacht hatte, sondern wandte sich der am schwersten zugänglichen Seite
des Ganzen zu: dem Motiv für den Mord. Er begann zu schreiben:
Dorothy
D'Arcy - Groll nach Flüchtlingsfiasko. Als Motiv für Mord - entschieden zu
schwach. Und doch, warum schien sie solchen Wert darauf zu legen, Stellas Lob
zu singen?
Felix
D'Arcy - lehnte Stella ab, weil sie die Maßstäbe von Carne nicht beachtete. Als
Motiv für Mord - lächerlich.
Shane
Hecht - Haß.
Terence
Fielding - in einer geistig normalen Welt, kein denkbares Motiv.
Aber war
es eine geistig normale Welt? Jahraus, jahrein mußten sie das gleiche Leben
teilen, den gleichen Leuten das gleiche sagen, die gleichen Hymnen singen. Sie
hatten kein Geld, keine Hoffnung. Die Welt veränderte sich, die Mode; die
Frauen sahen es aus zweiter Hand in den Magazinen; verkürzten ihre Kleider,
steckten die Haare auf und haßten ihre Männer noch etwas mehr. Shane Hecht -
tötete sie Stella Rode? Verbarg sie in der sterilen Allwissenheit ihres
gewaltigen Körpers nicht nur Haß
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