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Carre, John le

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Titel: Carre, John le Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Schatten von gestern (Smiley Bd 1)
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hat er einfach nicht denken können. Es war seine Aufgabe, und
das war alles.
    Es hat so
simpel begonnen. Eines Abends hat er den Durchschlag eines Telegramms mit nach
Hause gebracht und mir gezeigt. Er sagte: >Ich glaube, das sollte man Dieter
zeigen« - das war das Ganze. Zuerst konnte ich es nicht glauben - ich meine,
daß er ein Spion war. Denn das war er doch, nicht? Langsam ging mir ein Licht
auf. Sie fingen an, bestimmte Sachen zu verlangen. Die Notenmappe, die ich von
Freitag bekam, begann Aufträge zu enthalten, und manchmal Geld. Ich habe zu ihm
gesagt: >Schau, was sie dir da schicken - ist dir das wirklich recht?<
Wir wußten nicht, was wir mit dem Geld machen sollten. Wir haben es dann
hauptsächlich verschenkt, ich weiß nicht, warum. Dieter war damals im Winter
sehr bös, wie ich es ihm erzählt habe.«
    »In
welchem Winter war das?« erkundigte sich Smiley.
    »Im
zweiten Winter, den wir mit Dieter verbracht haben - 1956 in Murren. Das erste
Mal haben wir ihn 1955 im Januar getroffen. Damals hat das alles angefangen.
Und ich will Ihnen etwas sagen: Ungarn hat Samuel nichts ausgemacht, nicht das
geringste. Dieter hatte damals Angst seinetwegen, verstehen Sie, das hat mir
Freitag erzählt. Als Fennan mir damals im November die Sachen gab, die ich nach
Weybridge bringen sollte, bin ich wütend geworden. Ich habe ihn angeschrien:
»Siehst du nicht, daß es dasselbe ist? Dieselben Kanonen, dieselben Kinder,
die in den Straßen sterben? Nur der Traum ist ein anderer, das Blut hat noch
immer dieselbe Farbe. Ist es vielleicht das, was du willst?« habe ich ihn
gefragt. »Willst du das auch für die Deutschen? Wenn ich es bin, die auf der
Straße liegt, würdest du sie das dann auch mir antun lassen?« Aber er hat nur
gesagt: »Nein, Elsa, es ist etwas ganz anderes«, und ich habe weitergemacht mit
der Notentasche. Können Sie das verstehen?«
    »Ich weiß
nicht. Eigentlich nicht. Oder, ich glaube vielleicht doch.«
    »Er war
alles, was ich besaß. Er war mein Leben. Zuerst habe ich wohl versucht, mich
zur Wehr zu setzen, glaube ich. Aber schließlich wurde ich immer mehr
hineinverwickelt, und dann war es zu spät, umzukehren . . . Und dann, verstehen
Sie«, sagte sie flüsternd, »gab es Zeiten, wo ich froh war, wo die Welt dem,
was Samuel tat, Beifall zu klatschen schien. Das neue Deutschland war für uns
kein schöner Anblick. Alte Ausdrücke tauchten wieder auf, Ausdrücke, vor denen
wir als Kinder Angst hatten. Der schreckliche alte Stolz kam wieder, man konnte
ihn sogar auf den Bildern in den Zeitungen erkennen, sie marschierten im alten
Schritt. Fennan hat das auch gefühlt, aber er hatte, Gott sei Dank, nicht das
erlebt, was ich erlebt hatte.
    Wir waren
in einem Lager in der Nähe von Dresden. Mein Vater war gelähmt, und er
vermißte seine Zigaretten schrecklich. Ich habe ihm immer welche aus
irgendwelchem Mist gerollt, den ich im Lager auftreiben konnte, nur als eine
barmherzige Täuschung für ihn. Einmal hat ihn ein Wächter rauchen gesehen und
begann zu lachen. Andere kamen dazu und lachten auch. Mein Vater hielt die
Zigarette in seiner gefühllosen Hand und verbrannte sich die Finger. Er hat es
nicht gemerkt, verstehen Sie.
    Ja, wie
sie den Deutschen wieder Waffen gegeben haben, Geld und neue Uniformen, dann
war ich manchmal - nur für kurze Zeit - damit zufrieden, was Samuel getan
hatte. Wir sind Juden, müssen Sie wissen, und deshalb . . .«
    »Ja, ich
verstehe schon«, sagte Smiley. »Ich habe es auch erlebt, wenigstens ein bißchen
davon.«
    »Ja, das
hat Dieter erzählt.«
    »Dieter
hat das erzählt?«
    »Ja,
Freitag hat er es erzählt. Er hat ihm gesagt, daß Sie ein sehr gescheiter Mann
sind. Sie haben ihn einmal vor dem Krieg hinters Licht geführt, und er ist erst
viel später draufgekommen, hat Freitag gesagt. Er hat gesagt, daß Sie der Beste
wären, den er je getroffen hätte.«
    »Wann hat
Freitag Ihnen das alles gesagt?«
    Sie sah
ihn lange an. Noch nie hatte er in einem Gesicht solch einen hoffnungslosen
Jammer gesehen. Ihm fiel ein, was sie zu ihm gesagt hatte: »Die Kinder meines
Schmerzes sind tot.«
    Jetzt
verstand er es und hörte es in ihrer Stimme, als sie sprach: »Das ist doch
leicht zu erraten. In der Nacht, in der er Samuel getötet hat. Das ist ja der
irrsinnige Witz, Mr. Smiley. Gerade in dem Augenblick, da Samuel so viel für
sie hätte tun können - nicht dann und wann einmal ein Stück, sondern die ganze
Zeit - einen ganzen Haufen von Notentaschen -, gerade in diesem

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