Carte Blanche - Ein Bond-Roman
Mittellinie. Ein großer Lastwagen mit kyrillischem Logo kam ihm entgegen und wich seitlich aus. Der Fahrer ließ wütend die Hupe ertönen. Bond riss das Steuer herum, kehrte auf die rechte Fahrspur zurück und vermied eine Kollision um nur wenige Zentimeter. Dann jagte er weiter. Der Ire war die einzige Verbindung zu Noah und den für Freitag angekündigten Tausenden von Opfern.
Fünf Minuten später, kurz vor der M-21, verringerte Bond das Tempo. Ein Stück voraus sah er ein orangefarbenes Flackern, dazu aufsteigende Rauchschwaden, die Mond und Sterne verhüllten. Kurz darauf traf er an der Unfallstelle ein. Der Ire war aus einer engen Kehre und auf einen vermeintlich breiten Seitenstreifen gerutscht, hinter dessen Büschen es jedoch steil nach unten ging. Dort lag der Wagen nun auf dem Dach. Der Motorraum brannte.
Bond hielt an, zog den Zündschlüssel des Jetta ab und stieg aus. Dann nahm er die Walther und eilte halb laufend, halb schlitternd den Hügel hinunter auf den Mercedes zu. Dabei hielt er nach Gefahren Ausschau, konnte aber keine entdecken. Kurz vor dem Wagen blieb er stehen. Der Ire war tot. Er hing angeschnallt kopfüber im Fahrersitz, und die Arme baumelten nach unten. Blut bedeckte Gesicht und Hals und tropfte auf den Fahrzeughimmel.
Der Qualm ließ Bond die Augen zusammenkneifen. Er trat das Seitenfenster ein, um den Leichnam zu bergen und ihm die Taschen zu leeren. Dann würde er den Kofferraum nach Gepäck und Laptops durchsuchen.
Er klappte sein Messer auf, um den Sicherheitsgurt zu durchtrennen. Aus der Ferne näherten sich Sirenen. Bond sah zur Straße hinauf. Die Löschfahrzeuge waren noch mehrere Meilen entfernt, würden aber bald eintreffen. Beeilung! Die Flammen schlugen immer höher aus dem Motorraum. Der Rauch war beißend.
Bond setzte die Klinge an und dachte plötzlich: Die Feuerwehr? So schnell?
Das ergab keinen Sinn. Die Polizei, ja. Aber nicht die Feuerwehr. Er packte den Mann bei den blutigen Haaren und drehte den Kopf.
Das war nicht der Ire. Der Tote trug eine Jacke mit der gleichen kyrillischen Aufschrift wie der Laster, mit dem Bond beinahe zusammengestoßen wäre. Der Ire hatte den Lkw angehalten, dem Fahrer die Kehle durchgeschnitten, ihn in den Mercedes gesetzt und den Wagen über die Kante geschoben. Dann hatte er die örtliche Feuerwehr verständigt, um den Verkehr zu verlangsamen und Bond abzuhängen.
Den Rucksack und alles andere aus dem Kofferraum hatte der Ire natürlich mitgenommen. In Höhe der Rückbank lagen allerdings zwei Stücke Papier auf dem Fahrzeughimmel. Bond schnappte sie sich und steckte sie ein, bevor die Flammen ihn zum Rückzug zwangen. Er lief zurück zu dem Jetta und raste in Richtung M-21 davon. Die sich nähernden Blinklichter blieben hinter ihm zurück.
Dann zog er sein Mobiltelefon aus der Tasche. Es ähnelte einem iPhone, war aber etwas größer und mit besonderen Optik-, Audio- und anderen Systemen ausgestattet. Außerdem enthielt es zwei Telefone – eines, das auf die offizielle oder inoffizielle Tarnidentität eines Agenten registriert werden konnte, sowie eine versteckte Einheit mit diversen Verschlüsselungspaketen und Hunderten von Apps für den taktischen Einsatz. (Da das Gerät von der Abteilung Q entwickelt worden war, hatte es keinen Tag gedauert, bis irgendein Witzbold im Büro die Dinger »iQPhones« taufte.)
Bond öffnete eine App, die ihn sogleich mit einer Lauschstation des GCHQ verband. Dann gab er dem Stimmerkennungssystem eine mündliche Beschreibung des gelben Lastwagens vom Typ Zastava Eurozeta, den der Ire fuhr. Der Computer in Cheltenham würde automatisch Bonds gegenwärtigen Standort sowie die möglichen Routen des Lkw ermitteln und dann den Satelliten anweisen, alle passenden Fahrzeuge in der näheren Umgebung ausfindig zu machen und zu verfolgen.
Fünf Minuten später summte das Telefon. Hervorragend. Bond sah auf das Display.
Doch die Nachricht stammte nicht von den Schnüfflern. Sie kam von Bill Tanner, Bonds Stabschef. Der Betreff lautete ABTAUCHEN – also ein dringender Notfall.
Bond schaute fortwährend zwischen Straße und Telefon hin und her und las weiter.
GCHQ hat Meldung aufgefangen: Serbischer Agent aus Vorfall-20-Einsatz auf Weg ins Krankenhaus gestorben. Hat angegeben, Sie hätten ihn im Stich gelassen. Serben haben Ihre Festnahme angeordnet. Sofort abbrechen und evakuieren.
MONTAG
Der Lumpensammler
6
Nach dreieinhalb Stunden Schlaf wurde James Bond in seiner Wohnung in Chelsea um sieben
Weitere Kostenlose Bücher