Carte Blanche - Ein Bond-Roman
unterschreiben, Berichten, die er lesen, Memos, die er genehmigen, und Bilanzen, von denen er Kenntnis erhalten musste. Green Way florierte. Bei einer Branchenkonferenz hatte Hydt einst gescherzt, dass das Sprichwort über Gewissheiten im Leben nicht auf die üblichen zwei beschränkt bleiben sollte. Die Leute mussten Steuern zahlen, sie mussten sterben … und sie brauchten jemanden, der ihren Abfall einsammelte und wegschaffte.
Sein Computer gab ein melodisches Signal von sich, und Hydt öffnete die verschlüsselte E-Mail eines Kollegen im Ausland. Es ging um ein wichtiges Treffen am morgigen Dienstag; Zeiten und Orte wurden bestätigt. Die letzte Zeile gefiel ihm besonders: Die Zahl der Toten morgen wird bedeutsam sein – knapp 100. Hoffe, es passt.
Das tat es allerdings. Und die Begierde, die ihn beim ersten Anblick der Leiche in dem Container gepackt hatte, brannte nur umso heißer.
Er blickte auf. Eine schlanke Frau Mitte sechzig in dunklem Hosenanzug und schwarzer Bluse betrat das Büro. Sie hatte weißes Haar, geschnitten zur Kurzhaarfrisur einer Geschäftsfrau. Um ihren schmalen Hals hing an einer Platinkette ein großer und ansonsten schmuckloser Diamant. Ähnliche Steine, wenngleich in etwas aufwendigeren Fassungen, zierten ihre Handgelenke und mehrere Finger.
»Die Probeabzüge gehen in Ordnung.« Jessica Barnes war Amerikanerin. Sie stammte aus einer Kleinstadt in der Nähe von Boston, was man ihrem Tonfall auch heute noch auf charmante Weise anhörte. Die einstige Schönheitskönigin hatte Hydt als Hostess in einem eleganten New Yorker Restaurant kennengelernt. Sie lebten nun schon viele Jahre zusammen, und um sie in seiner Nähe zu haben, hatte er sie als Leiterin von Green Ways Werbeabteilung eingestellt, einem weiteren Geschäftszweig, für den Hydt weder Respekt noch Interesse empfand. Ihm war aber zugetragen worden, dass Jessica im Hinblick auf die Marketingbemühungen der Firma mitunter gute Entscheidungen getroffen hatte.
Als Hydt sie nun ansah, kam ihm irgendetwas anders vor als sonst.
Er musterte ihr Gesicht. Das war es. Er zog es vor, bestand darauf , dass sie sich nur schwarz und weiß kleidete und nicht schminkte. Heute jedoch hatte sie einen Hauch Puder und womöglich – da war er sich nicht ganz sicher – etwas Lippenstift aufgetragen. Er runzelte nicht die Stirn, aber sie bemerkte seinen Blick, veränderte minimal ihre Körperhaltung und atmete etwas anders. Ihre Finger hoben sich zur Wange. Dann hielt sie mitten in der Bewegung inne.
Doch die Botschaft war angekommen. Sie hielt ihm die Werbeanzeigen hin. »Möchtest du einen Blick darauf werfen?«
»Ich bin sicher, sie sind gut«, sagte er.
»Dann schicke ich sie los.« Sie verließ das Büro. Hydt wusste, dass sie als Erstes nicht etwa die Werbeabteilung, sondern die Damentoilette aufsuchen würde, um sich das Gesicht abzuwaschen.
Jessica war nicht dumm; sie hatte ihre Lektion gelernt.
Dann verschwand sie aus seinen Gedanken. Er starrte aus dem Fenster auf seinen neuen Destruktor. Das am Freitag bevorstehende Ereignis war ihm nur zu bewusst, doch im Augenblick bekam er den morgigen Tag einfach nicht aus dem Kopf.
Die Zahl der Toten … knapp 100.
Sein Magen zog sich auf angenehme Weise zusammen.
In diesem Moment meldete sich die Sekretärin über die Gegensprechanlage. »Mr. Dunne ist hier, Sir.«
»Ah, gut.«
Gleich darauf trat Niall Dunne ein und schloss die Tür hinter sich, damit sie ungestört sein würden. Das trapezförmige Gesicht des unbeholfen wirkenden Mannes hatte in den neun Monaten, die sie sich nun kannten, kaum jemals eine Regung erkennen lassen. Severan Hydt konnte mit den meisten Leuten nichts anfangen und interessierte sich nicht für gesellschaftliche Gepflogenheiten. Aber Dunne jagte sogar ihm einen Schauder über den Rücken.
»Also, was war da drüben los?«, fragte Hydt. Dunne hatte nach dem Zwischenfall in Serbien gesagt, sie sollten ihre Telefonate auf ein Minimum beschränken.
Der Mann richtete die blassblauen Augen auf Hydt und erklärte in seinem Belfaster Akzent, dass er und Karic, der serbische Kontaktmann, von mehreren Männern überrascht worden seien – mindestens zwei serbischen BIA -Agenten, getarnt als Polizisten, und einem Westler, der behauptet hatte, er gehöre zur European Peacekeeping and Monitoring Group.
Hydt runzelte die Stirn. »Ist das …«
»Eine solche Gruppe existiert nicht«, sagte Dunne ruhig. »Das war keine staatlich gelenkte Aktion. Es gab keine
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