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Caruso singt nicht mehr

Titel: Caruso singt nicht mehr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Chaplet
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letzten drei Tage. So sieht das also aus, was Gottfried von morgens bis abends im Blickfeld hat, dachte Paul etwas säuerlich. Idyllisch. Wirklich idyllisch.
    »Also erstens«, sagte Marianne und umfaßte mit der rechten Hand ihren linken Daumen, »erstens ist Gottfried verschwunden. Seit gestern. Aber das weißt du ja.«
    Paul nickte mäßig interessiert, streckte die Beine aus, legte den Kopf in den Nacken und sah zwei vorbeiziehenden Saatkrähen zu.
    »Und zweitens«, addierte Marianne unbeirrt die jüngsten Katastrophen, »zweitens ist der junge Alexander tot.«
    »Der Freund von Rena?« Paul setzte sich auf.
    »Nicht, was du denkst«, sagte Marianne bedeutungsvoll.
    Paul hatte natürlich an einen Verkehrsunfall gedacht, an die Haarnadelkurve vor dem Feldweg zum Weiherhof beispielsweise, wo er schon einmal einen gestrandeten Motorradfahrer aufgegabelt hatte. Die Ecke entwickelte sich offenbar zum rituellen Opferplatz für motorisierte Jungmänner.
    »Der Junge hat einen Huf vor den Kopf bekommen.«
    Ein Reitunfall? Hoffentlich nicht mit einem Pferd vom Weiherhof. Rena und Anne mußte es miserabel gehen. Paul guckte auf seine Armbanduhr. Verdammt. Er hatte schon längst bei ihnen sein wollen.
    Er merkte irritiert, daß Marianne ihn nicht aus den Augen ließ. »Wie ein Geier«, dachte er unangenehm berührt, »kurz vorm Zustoßen.«
    »Das Pferd von Anne Burau hat nach ihm getreten«, sagte sie jetzt langsam, »der Araberhengst.«
    »Bucephalus?«
    »Butz-wie-auch-immer. Genau.«
    Jetzt war Paul hellwach. Marianne nickte bekräftigend mit dem Kopf. »Und warum …« begann er. Seine Nachbarin legte eine Kunstpause ein. »Sie genießt das«, dachte Paul plötzlich und sah sie befremdet an. Marianne ließ eindeutig einen Hang zum Sadismus erkennen.
    »Der Junge hat versucht, den Gaul abzustechen.«
    Bremer war wie vom Donner gerührt.
    »Alexander?« fragte er ungläubig.
    »Genau. Und das war nicht das erste Mal.«
    Paul begann zu verstehen. »Alexander war der Pferdeschlitzer«, bestätigte Marianne mit Genugtuung.
    Paul fühlte sich flau. Mariannes Selbstzufriedenheit hatte etwas Grausames. Das Schicksal anderer interessierte sie offenbar nicht – solange ihre Welt wieder in Ordnung war. Manchmal ist sie mir unheimlich, dachte Paul und sprang auf. Er mußte zu Anne.
    »Und drittens«, sagte Marianne unbeirrt und zog ihn wieder neben sich, »drittens haben sie den Brandstifter erwischt. Als er eine Scheune anzünden wollte, in Berghain. Der alte Probst hat es gerade noch rechtzeitig gemerkt und ist mit seinen beiden Söhnen hinterher. Totgeschlagen hätten sie ihn, wenn der Elisabeth ihr Schwager nicht dazwischengegangen wär …« Sie klang, als ob sie das eigentlich bedauerte.
    In diesem Moment kam Gottfrieds roter Golf durch die Toreinfahrt gefahren. Marianne und Paul waren unwillkürlich aufgestanden, und auch Marie erschien auf der Treppe vor der Haustür. Wie ein Überfallkommando, durchfuhr es Paul beim Anblick dieses Begrüßungskomitee für Gottfried. Und der arme Kerl ahnt nicht, was ihn alles erwartet, dachte er mitleidig.
    Gottfried stieg unendlich langsam aus dem Auto. Paul erschrak, als er ihn sah. Er hatte seinen gemütlichen, lebensbejahenden Nachbarn noch nie so mitgenommen gesehen, ungekämmt, mit Dreitagebart im grauen Gesicht. Gottfried sah weder Paul noch Marianne. Er hatte nur Augen für Marie.
    »Ich war bei Peter«, sagte er und nahm sie in den Arm. »Im Krankenhaus.«
    »Ich weiß«, sagte sie und drehte den Kopf weg.
    »Sie hätten ihn fast gelyncht«, sagte Gottfried mit ungewohnter Bitterkeit in der Stimme. »Die Meute. Umgebracht hätten sie ihn am liebsten.«
    »Der alte Probst«, soufflierte Marianne, als Paul begriffsstutzig guckte. »Und seine Söhne.« Als er noch immer nicht kapierte, zischte sie ihm zu: »Sie haben Gottfrieds Peter beim Zündeln erwischt!«
    »Schädelbruch«, zählte Gottfried mit zitternder Stimme auf. »Mehrfach gebrochenes Nasenbein. Drei Zähne ausgeschlagen. Milzriß …«
    Marie legte ihm die Hand auf den Arm. Gottfried hielt inne und sah sie an.
    »Verzeih mir, Marie«, sagte er leise zu seiner Frau.
    »Schon gut«, sagte Marie. Aber ihren Kopf hielt sie noch immer weggedreht, als sie mit ihm ins Haus ging.
    Marianne sah zufrieden aus. Für sie hatte sich die Angelegenheit erledigt – der Pferdeschlitzer hatte seine gerechte Strafe bekommen, und der Brandstifter war gefaßt. Paul hätte sie am liebsten gepackt und geschüttelt.
    »Ah – ja«, sagte er

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