Caruso singt nicht mehr
klagte über Schlaflosigkeit und lief oft morgens durch die Gegend.« Anne hatte ihn gesehen, wenn sie in der Frühe ausritt. Oder wenn sie nachts bei einer kalbenden Kuh geblieben war. Seine schlanke und seltsam verloren wirkende Gestalt. Die blauen Schleier von Zigarettenrauch, die von seiner Hand aufstiegen. Er hatte immer so getan, als ob er sie nicht sähe. Und sie hatte nie auch nur ein Wort an ihn gerichtet.
Sammy kratzte an der Tür zum Hofladen, in dem Paul, Rena, Anne, Karen und der Inspektor versammelt waren. Sie alle hatten nicht gemerkt, daß es draußen dunkel und drinnen empfindlich kalt geworden war. Kosinski ließ das Tier herein, das zu spüren schien, wie gespannt die Atmosphäre war. Der eben noch hoch erhobene Schwanz senkte sich auf Halbmast. Der Hund verkroch sich hinter die Theke.
»Wer hat Leo umgebracht?« Anne schüttelte sich plötzlich vor Kälte und Anstrengung und stand abrupt auf von dem harten Holzstuhl, auf dem sie zuletzt fast regungslos gesessen hatte, die Beine verkrampft ineinandergeschlungen, verfroren und steif.
»Ellens Freund«, sagte Karen leise.
»Daniil Gratschow?« fragte Kosinski, hellwach.
»Ellen Leinemann?« fragte Paul.
Karen runzelte die Stirn und sah zu ihm hinüber. Woher wußte er das? Dann nickte sie.
»Ich weiß nicht, was Sie alles schon wissen«, sagte sie und blickte in die Runde. »Ich weiß über Ellen Leinemann nur, daß sie als Elektroingenieurin in Ostberlin arbeitete. Sie war mit einem Mann aus Kiew verlobt, einem Artisten, der mit einem sowjetischen Zirkus in die DDR gekommen war und dort blieb. Ihr zuliebe.«
So weit war Kosinski auch gekommen. Er hatte nach Daniil Gratschow fahnden lassen, aber ohne Erfolg. Der Mann war wie vom Erdboden verschluckt. Wahrscheinlich war er nach der Wende zurückgekehrt – nach Rußland, in die Ukraine, wer weiß wohin. »Ellen Leinemann und ihr Freund wollten beide die DDR verlassen – mit dem Zirkus, der oft im Ausland gastierte.«
Karen nickte. »Und das hat sie einem alten Bekannten erzählt, während ihr Freund mit dem Nationalzirkus der DDR in Paris gastierte. Mit dem sie ein Liebesverhältnis gehabt hatte, vor Jahren schon. Dem sie vertraute.«
Leo Matern.
»Sie haben sie festgenommen, bevor ihr Freund zurück war.«
»Ich kenne die Geschichte«, sagte Anne leise. »Wir alle kennen die Geschichte.«
Karen nickte wieder. »Ihr Freund wiederum glaubte, man werde ihn ebenfalls festnehmen, wenn er zurückkäme. Er hoffte, man würde sie abschieben, wenn er sich ruhig verhielte. Ihr Anwalt hatte ihm das versichert.«
Kosinski lachte kurz und angeekelt auf. »Wir kennen auch diesen Anwalt.«
»Er ist ein Schwein«, sagte Anne.
»Aber in bundesdeutschen Talkshows sehr beliebt«, ergänzte Kosinski.
»Ellen glaubte, er habe sie alleingelassen, um seine eigene Haut zu retten.«
»Sie hat sich erhängt«, sagte Anne mit einer Traurigkeit in der Stimme, die selbst sie überraschte. Sie wußte, wie sich das anfühlte, wenn man sich verraten glaubte. Es gab wohl kein anderes Gefühl auf der Welt, das einsamer machte. Und das einen schneller davon überzeugte, daß es keinen Grund gab, weiterzuleben.
»Er hat sich das alles nie verziehen«, sagte Karen, in sich versunken, das Kinn fast auf die Brust gedrückt.
»Wer?« Paul beobachtete sie beunruhigt.
»Ellens Freund.« Karen blickte nicht auf.
Und diese Schuldgefühle hatten seinen Wunsch nach Rache noch verstärkt. »Ich habe ihn niedergeworfen und ihm das Knie auf die Brust gesetzt.« Das Protokoll war auch in diesem Punkt umfassend und präzise. »Er hat nicht geschrien. Ich habe leise ›Ellen‹ gesagt und ihm dabei in die Augen gesehen. Er hat nicht erkennen lassen, daß ihm dieser Name etwas bedeutete. Dann habe ich zugezogen. Langsam. Er hat sich noch nicht einmal an Ellen erinnert«, hatte die Stimme auf dem Tonband leise gesagt, zitternd vor Trauer und Wut. Wut, dachte Karen. Vor allem Wut. Selbstzweifel waren ihm nicht gekommen. Und wie ein Großwildjäger hatte er sogar die Schlußszene noch fotografiert, die Szene im Kühlhaus: nicht in der Totale. Aber en detail. Den nackten Hintern von Leo Matern. Mit dem blauen Stempel darauf.
»Wo ist Gratschow«, fragte Kosinski langsam. »Woher wissen Sie das alles?«
»Ich kenne keinen Gratschow«, antwortete Karen ebenso langsam und sah ihm in die Augen. »Und woher ich das weiß –« Karen hob die Kassette hoch, die Kassette aus ihrem Anrufbeantworter. »Haben Sie ein Kassettengerät, Frau
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