Caruso singt nicht mehr
der Mitte des Oberschenkels abgeschnittene Jeans. Dazu tief ausgeschnittene, spitzenbesetzte Hemden mit dünnen Trägern oder, im Sommer, ein schwarzes Bikinioberteil. Es machte schon was her, wenn sie so und mit gelösten blonden Locken ihre Kühe durchs Dorf trieb.
Neben Karen hatte sie, das mußte sogar Paul zugeben, der Marianne ehrlich mochte, keine Chance. Karen war nicht richtig hübsch. Alles an ihr war groß: die Figur, die Nase, der Mund. Sie betonte das; sie dachte nicht daran, sich kleinzumachen. Paul beneidete sie oft um ihr Selbstbewußtsein, um die Autorität, die sie ausstrahlte. Und manchmal sogar um ihr Stimmvolumen: Sie hatte einen vibrierenden Alt, der Angeklagte in Schweiß ausbrechen und Richter eifersüchtig werden ließ. Karen war beeindruckend.
Sie war eine städtische Schönheit, so wie Marianne eine ländliche Schönheit war. Marianne, das wußte Paul, fürchtete sich vor Frankfurt. Karen fürchtete sich zwar vor nichts und niemandem. Aber für die ganz normalen Erfordernisse des Dorflebens war sie bestimmt nicht qualifiziert: einen Kohleofen anzünden, zum Beispiel, und ihn auch über Nacht nicht ausgehen lassen. Ganze Kürbisse einmachen – und auch noch so, daß es schmeckte. Die Flasche mit dem Propangas für den Küchenherd auswechseln, was zwei- bis dreimal im Jahr nötig war. Einen Gemüsegarten unterhalten, ohne alles den Schnecken zum Fraß zu überlassen.
Karen kaufte die Milch in der Tüte und löste die anderen lebenspraktischen Dinge, indem sie die entsprechenden Knöpfe drückte: an der Heizung etwa. Bremers Sehnsucht nach den Herausforderungen des Landlebens verstand sie nicht. Marianne und Karen waren so verschieden wie Stadt und Land.
Bremer merkte plötzlich, wie sehr er sich freute, sie zu sehen.
»Danke«, murmelte er und umarmte sie. Es waren immerhin gut hundert Kilometer von Frankfurt bis Klein-Roda.
»Das war ja eher ein Hilfeschrei gewesen als eine Einladung zum Abendessen!« sagte sie ihm ins Ohr.
»Stimmt«, sagte Paul und lachte sie an. »Die Entschädigung: Gottfried hat uns eines seiner preisgekrönten Rassekaninchen geschlachtet.« Das lag jetzt im Bräter, zusammen mit Lorbeer, Thymian und Majoran aus dem Garten und in Rotwein mariniert.
»Vorher noch in die Kneipe?« fragte er sie. Es war noch Zeit für ein Feierabendbier. Karen nickte.
Die nächste Kneipe hieß »Zum rauschenden Brünnlein« und lag im Nachbardorf, in Heckbach. Man konnte dort im Sommer an langen Holztischen auf der Obstbaumwiese sitzen und Apfelwein trinken und Handkäs’ essen. Klein-Roda selbst hatte keine Dorfkneipe. Bremer war ziemlich froh darüber, denn in einer Kneipe wie dem »Rauschenden Brünnlein« spielte sich nicht das pralle Dorfleben ab. Sondern seine Kehrseite. Hier saßen Männer und brachten ihre Rente durch – beziehungsweise das Arbeitslosengeld oder die Sozialhilfe. Wer hier Abend für Abend trank, war überwiegend alt, einsam, unbrauchbar, alkoholkrank, deprimiert, perspektivlos oder alles auf einmal. Vollzeitbauern oder Nebenerwerbslandwirte traf man nicht in Kneipen. Die hatten auch abends zu arbeiten.
Doch immer noch war die Dorfkneipe ein Ort des Klatsches, eine Informationsbörse. Wer tags nichts zu tun hatte, außer durchs Dorf zu gehen und ein Schwätzchen zu halten, und wer nachts ausgiebig wach lag, dem entging kaum eine Regung des Lebens. Hier, dachte Paul manchmal, saßen die Hilfspolizisten des Landes und glichen ihre Informationen ab.
Er hätte sich allerdings denken können, daß man sich mit Karen im Schlepptau unmöglich unauffällig in den Strom des Dorftratsches einfädeln konnte. Erna, die hinter der Theke die Gläser polierte, servierte Karen zwar höflich einen Persico – »Der Name ist so schön«, behauptete Karen – und zapfte Paul ein Bier. Doch das Gemurmel an den Tischen, das bei ihrem Eintreten schlagartig verstummt war, setzte nur zögernd und leise wieder ein.
»Da kommt der Wichtigtuer vom Dienst«, flüsterte Paul Karen warnend zu, als Moritz von der Toilette an ihrem Tisch vorbei kam. Der magere Mann mit dem dünnen Ziegenbärtchen im Gesicht klopfte Paul jovial auf die Schulter und musterte Karen neugierig. »Willst du uns nicht vorstellen, Paul?«
»Moritz, Diplomsoziologe und Schreinermeister«, sagte Bremer widerwillig. »Karen Stark. Staatsanwaltschaft Frankfurt.« Moritz hob die Augenbrauen und sah Karen mißtrauisch an. »Da müssen wir uns ja wohl geehrt fühlen!«
Moritz war ein altgedienter Aussteiger,
Weitere Kostenlose Bücher