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Caruso singt nicht mehr

Titel: Caruso singt nicht mehr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Chaplet
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dachte sie. Er versteht das alles nicht. »Ach!« höhnte ihre innere Stimme. »Was erwartest du denn? Soll er sozusagen intuitiv verstehen, was du jahrelang nicht kapiert hast?« Sie seufzte und ließ sich vom Balken hinunter ins Stroh gleiten. Dagobert, der zu ihren Füßen lag, klopfte zur Begrüßung mit der Rute aufs Stroh. Nein – aus dem bißchen, was sie ihm erzählt hatte, konnte er wahrscheinlich gar nichts schließen. Sie aber hätte damals alles begreifen können. Die Zeichen hatten an der Wand gestanden – in feurigen Lettern, dachte Anne und lachte auf. Sie hätte sie nur lesen müssen. Aber sie hatte sie nicht lesen wollen.
    Sie erinnerte sich an den Tag vor vielen Jahren, als ob es gestern gewesen wäre. Es war einer der letzten sonnigen Oktobertage in Kiel gewesen, kühl, es roch schon nach Herbst. Die Kastanienbäume in ihrer Straße leuchteten feuerfarben – der nächste Regen, die nächsten Windstöße würden ihnen die Blätter von den Zweigen fegen. Am Wochenende wurden die Uhren umgestellt. Die dunkelsten vier Monate des Jahres begannen – und auch die brennendste Liebe würde eine ungeheizte Gartenhütte nicht wärmer machen. Sie wußte nicht, wie es weitergehen sollte mit Leo. Auf Liebe nahm die Grenze zwischen Ost und West keine Rücksicht.
    Ihr Liebe hatte keine Zukunft. Oder wollte sie wirklich jedes Wochenende die Transitautobahn von Kiel nach Berlin nehmen? Oder ihre Parteikarriere in Kiel sausen lassen, nach Westberlin umziehen und jeden Abend pünktlich um Mitternacht die Grenze ansteuern? »Und wenn sie dich auch rausschmeißen?« hatte sie Leo am letzten Wochenende gefragt. »Wegen schlechter Gedichte?«
    »Und dann?« hatte er geantwortet.
    »Ich hab ein Gästezimmer in Kiel«, hatte sie lachend gesagt und ihn umarmt.
    Sie würden ihn nicht gehen lassen. Sie war sich ganz sicher.
    Sie hatte an diesem Abend in Kiel lange vor dem Briefkasten am schmiedeeisernen Tor zum kleinen Vorgarten gestanden und mit wachsender Melancholie der alten Frau Altmann von nebenan zugesehen, die ihren Pudel unter den Bäumen Gassi führte, durchs Laub, in dem das Tier lustvoll wühlte. Der ziemlich häßliche Hund trug den Namen »Annette«, auf den er, was Anne verständlich fand, nur selten hörte. Im Briefkasten hatte sich auch nichts Spannendes gefunden – nur unerwünschte Werbebriefe, die Telefonrechnung, ein Rundbrief des Kreisverbandes, der Handzettel eines Pizzaauslieferservice.
    Anne hatte die Werbebriefe in die Papiertonne geworfen, die Plastiktüten mit ihren Einkäufen wieder aufgenommen und war zum Haus gegangen, als sie hinter sich das Eisentor quietschen hörte. Sie hatte sich nicht umgedreht und schon den Schlüssel in die Haustür gesteckt. Dann stand er plötzlich hinter ihr.
    »Ich bin’s, Liebste«, hatte er leise gesagt. »Erschrick nicht.«
     
    Man hatte Leo abgeschoben, in einer Nacht- und Nebelaktion. Das machte man damals gern mit unbequemen Leuten; er war nicht der erste und nicht der einzige, der ausgebürgert wurde. So ging man in der DDR mit notorischen Kritikern um – seit man sie, dank der Aufmerksamkeit der Medien, nicht mehr einfach in den Knast stecken konnte. Man bestrafte sie mit dem Verlust der Heimat und des Freundeskreises. Anne hatte versucht, ihn zu trösten. In Wirklichkeit war sie schamlos glücklich gewesen über diese Fügung der Dinge.
    Komisch, dachte Anne, wie mehr oder weniger gelassen fast alle die Tatsache aufnahmen, daß Leo plötzlich da war und blieb. Rena hatte eine Weile geschmollt und theatralisch »Ich hasse ihn!« geschrien. Und ihre Mutter ein bißchen verachtet für die Zuneigung zu einem dazu auch noch jüngeren Mann. »In deinem Alter!« hatte sie einmal gerufen. Anne grinste, die Szene vor Augen. Irgendwann hatten Leo und Rena Waffenstillstand geschlossen. Oder, was auch möglich wäre – sie hatte einfach nicht mehr hingeguckt, wenn die beiden sich angifteten. Sie hatte es damals schon zu einer gewissen Meisterschaft im Weggucken gebracht.
    Heike war skeptisch gewesen, jedenfalls zuerst. »Es ist ein bißchen zu schön, um wahr zu sein«, hatte ihre beste Freundin gesagt. Ihr Widerstand hielt Leos Charme nicht lange stand. Er hat sie um den Finger gewickelt, dachte Anne. Wie alle.
    Fast alle. »Paß auf dich auf. Du kennst ihn kaum.« Sie hatte noch heute die warnende Stimme von Wolfgang im Ohr. Der Schriftsteller hatte die DDR schon vor Jahren verlassen, sie traute seinem Urteil. Es machte ihr zu schaffen, damals, daß gerade er

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