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Caruso singt nicht mehr

Titel: Caruso singt nicht mehr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Chaplet
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Leo zu mißtrauen schien.
    Wolfgang hatte sich vorsichtig ausgedrückt. Er habe aus der Ostberliner Dissidentenszene von Bedenken gegen Leo gehört: Der habe bis zu seinem Rausschmiß in einer geräumigen Vierzimmerwohnung in Berlin-Friedrichshain gewohnt. Anne war nie dort gewesen. Vor einigen Monaten sei in diese Wohnung eine Etagenheizung eingebaut worden, seien die Elektroleitungen erneuert worden. Wovon wohl ein nicht sehr erfolgreicher Lyriker so etwas finanziere? Und als man ihn gezielt mit einer Falschmeldung versorgt habe – eine Aktion ankündigte, die gar nicht stattfinden sollte –, seien Spitzel gesehen worden am Schauplatz jener angeblichen Aktion. Wer die wohl alarmiert habe?
    »Desinformationskampagne der Stasi«, hatte Leo diese Gerüchte genannt. »Alles erfunden und erlogen.« Er hatte in ihrer Küche gesessen und war ganz ruhig gewesen. »Sie wollen die Friedensbewegung spalten und mich isolieren – du kennst doch das Spiel.«
    Es stimmte: Man wußte damals, daß die Stasi so operierte. Man wollte vermeiden, daß die Ausgewiesenen für die Dagebliebenen zu Märtyrern wurden. Natürlich waren das die allgemein anerkannten Methoden, dachte sie bitter. Und wer kannte die besser als Leo? Der sich einer Tatsache ganz sicher sein konnte, weil sie offen zutage lag – in dem Blick, mit dem Anne ihn jeden Morgen ansah: daß sie die Wahrheit nicht wissen wollte. Ihr war die Wahrheit egal. Hauptsache, er war da.
    Dagobert trottete hinter Anne her, die sich aus der duftenden Wärme des Stalles herausschälte wie aus einem alten, vertrauten Wintermantel, den man nur ungern ablegte. Der Gedanke an ihre damalige Naivität quälte sie.
    Denn da war noch jemand anders gewesen, der Leos Charme, seinen dunklen Augen und guten Manieren nicht erlegen war: ihre Mutter. Sie und Leo hatten Erika Burau damals besucht, im Frühsommer, zwei Wochen vor der Hochzeit – der hat sie beigewohnt, als ob es zur Beerdigung ginge, dachte Anne mit einem Anflug der alten Bitterkeit.
    »Wie findest du ihn?«, hatte Anne glückstrahlend gefragt. Nicht, daß sie auch nur für eine Sekunde geglaubt hätte, ihre Mutter und sie könnten sich in grundsätzlichen Fragen einig sein. Dennoch hatte Erikas Antwort sie überrascht.
    Sie hatten auf der Terrasse im Garten hinter dem kleinen Reihenhaus aus den fünfziger Jahren gesessen, in dem Anne aufgewachsen war. Erika wohnte nach dem Tod ihres Mannes allein dort, in Sehestadt, in Schleswig-Holstein, fast am Kanal. Leo war spazierengegangen, wahrscheinlich wollte er Mutter und Tochter Gelegenheit zum Reden geben, glaubte Anne: Er war so rücksichtsvoll. Sie schälten Spargel, so, wie es Anne von ihrer Mutter gelernt hatte: oben an der Spitze zart beginnen, unten am Schaft tiefer schneiden.
    Annes Mutter ließ sich Zeit mit der Antwort. »Er ist hart«, sagte Erika schließlich. »Es ist eine große Härte in diesem Mann.« Leo? Anne hatte ihre Mutter ungläubig ausgelacht.
    Erika legte einen frisch geschälten Spargel ins Sieb zu den anderen und prüfte kritisch Annes Exemplare.
    »Er liebt dich nicht«, fügte sie hinzu, ebenso lakonisch. Immerhin besaß sie den Anstand, Anne dabei nicht in die Augen zu sehen, hatte Anne damals gedacht, die sich noch heute an die ungeheure Wut erinnerte, die in ihr hochgestiegen war.
    »Das sagst ausgerechnet du?« hatte sie empört gerufen.
    Erika glaubte nicht an die Liebe. Jedenfalls nicht an die romantische Liebe, die heiße Leidenschaft, das ungezügelte Begehren – »Das ist Lore-Roman«, hatte sie einmal abschätzig gesagt, Anne erinnerte sich nicht mehr, aus welchem Anlaß. »Das ist was für pubertierende Mädchen.«
    Hatte sie Annes Vater geliebt? Anne hatte das damals nach dem Tod ihres Vaters wissen wollen – fast an Vaters Totenbett, dachte sie mit einem Anflug von Scham. »Zu Beginn unserer Ehe nicht«, hatte Erika in ihrer gnadenlosen Ehrlichkeit gesagt. »Später allerdings …« Diese Einschränkung aber hatte ihre Tochter schon nicht mehr hören wollen. Sie, dachte Anne, hatte sich selbstgerecht aufregen wollen über das mütterliche Geständnis, über diesen schockierenden Satz, der gegen alles verstieß, woran Anne damals glaubte. Vor allem gegen das bedingungslose Primat der Liebe.
    Erika hatte »Viel Glück« gesagt, als Anne ihr 1991 knapp mitteilte, daß sie Kiel und Leo verlassen würde. Kein rechthaberisches »Siehste«, kein »Ich hab’s dir gleich gesagt«. Das hatte sie ihrer Mutter nie vergessen. Und irgendwann hatte sie

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