Caruso singt nicht mehr
begriffen, daß Erika von der Liebe nichts hören wollte, weil sie deren Kehrseite zu gut kannte.
Ihre Mutter, wußte Anne heute, hatte Annes Vater geheiratet, um einem anderen Mann zu entkommen: dem herrschsüchtigen, tyrannischen Vater, der seiner Frau zum Vorwurf machte, daß sie ihm Töchter, aber keinen Sohn geboren hatte. »Es ist ihr nie gelungen«, dachte Anne bedauernd.
Der alte Maier war im Frühsommer 1945 in der sowjetisch besetzten Zone verhaftet worden. Seither galt er als verschollen. Jahre-, jahrzehntelang hatte Erika, die sich rechtzeitig in den Westen absetzen konnte, nach ihm suchen lassen. Erst spät erfuhr sie von einem ehemaligen Mithäftling, daß er im Lager Buchenwald gestorben war, im Winter 1947, an Lungenentzündung und allgemeiner Erschöpfung.
»Er war ein Mitläufer, kein Verbrecher, Anne«, hatte sie ihrer Tochter zu erklären versucht, die von der Überzeugung nicht abzubringen war, ausnahmslos alle seien damals Nazis gewesen. »Es muß eine Verwechslung gegeben haben. Eine Denunziation.« Sie hatte seine Rehabilitation gewollt. Heute, dachte Anne traurig, würde sie die wahrscheinlich kriegen. Heute war es zu spät.
Warum hatte sie ihrer Mutter eigentlich nie gesagt: »Dein Vater ist nicht an dir gestorben – höchstens an den Verhältnissen.« Erika hatte viel zu lange damit verbracht, ein tiefes Schuldgefühl gegenüber dem Vater abzutragen, den sie für einen anderen verlassen hatte – und der nun erst recht nicht mehr von ihr ließ. Liebe war der Strick, der Menschen auch über den Tod hinaus aneinanderfesselte.
Anne seufzte. Sie hatte lange gebraucht, um die Zusammenhänge zu verstehen. Wie denn auch? Als junges Mädchen hatte sie Erikas Kühle in allen Gefühlsdingen gehaßt – das nahm den Träumen allen Glanz. Oder was sollte man als Siebzehnjährige mit Sätzen anfangen wie: »Mach dich rar!« oder »Wer Liebe sagt, der lügt!« In Wirklichkeit hatte Erika zu sehr geliebt. Und das hatte sie irgendwann erkannt.
»Er liebt dich nicht«, hatte ausgerechnet ihre Mutter über Leo gesagt.
»Seit wann ist das denn ein Nachteil, deinen gesammelten Grundüberzeugungen zufolge?« hatte Anne wütend geantwortet.
» Mich kränkt das wenig.« Erikas Gelassenheit hatte sie noch wütender gemacht. »Aber dich.« Ihre Mutter hatte sie fast liebevoll angesehen, damals. »Oder?«
Anne verzog angewidert die Nase, als sie an der nassen Ruine des kleinen Stallgebäudes vorbeikam, die Krysztof notdürftig zugänglich gemacht hatte. Irgend etwas mußte ihre Mutter damals in Annes Gesicht gesehen haben, irgend etwas, das sie plötzlich fast weich, ja geradezu zärtlich zu ihrer Tochter hatte werden lassen.
»Du brauchst einen Mann, der dich liebt, Anne. Nicht einen, den du liebst. Das ist auch wichtig. Aber das kommt von ganz allein.« Erika hatte den letzten geschälten Spargel ins Sieb gelegt und sammelte die Schalen zusammen.
»Er liebt mich, Mutter. Ich weiß es.« Anne rang um ihre Selbstbeherrschung. »Und was verstehst du schon davon!«
»Nichts, glaubst du.« Erika hatte die getönte Brille abgelegt und sie müde angeschaut. »Ich habe deinen Vater nicht aus ›Liebe‹ geheiratet« – selbst das Wort ging ihrer Mutter kaum über die Lippen, war Anne aufgefallen –, »sondern aus Gründen, von denen ich annehmen konnte, daß sie auch nach Jahrzehnten noch Bestand haben würden.«
»Und die wären?«
»Ehrlichkeit. Verläßlichkeit. Respekt.« Was für ein konservatives Langweilerprogramm, hatte Anne damals in ihrem Größenwahn geglaubt.
»Und das hatte Bestand?« fragte sie kritisch.
»Bis zuletzt.«
»Ganz ohne Liebe?«
»Das«, hatte Erika bestimmt gesagt, »habe ich nicht behauptet.« Sie war vom Tisch aufgestanden, das Sieb mit dem Spargel in der Hand, und hatte ihrer Tochter den Rücken zugewandt. »Und jetzt wollen wir nicht mehr darüber reden.«
Die Sünden der Väter – und der Mütter. Es gab wohl nichts und niemanden, der diesem unseligen Zusammenhang entrinnen konnte. Entweder wiederholte man die Fehler der Alten. Oder man rebellierte dagegen. Aber die Rebellion befreite nicht. Auch sie fand sich im Handbuch der Psychologie unter dem Stichwort »Wiederholung«. Du bist in die Falle gerannt, dachte Anne. In die Falle der Liebe. Sonst wäre ihr vielleicht aufgefallen – nicht, daß Leo sie nicht geliebt hatte. Sondern daß es den, den sie liebte, gar nicht gab.
Anne fühlte, wie die Müdigkeit ihren Kopf ganz leicht werden ließ. Sie ging mit dem Hund
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