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Caspar Hauser oder Die Traegheit des Herzens

Caspar Hauser oder Die Traegheit des Herzens

Titel: Caspar Hauser oder Die Traegheit des Herzens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jakob Wassermann
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mich nicht jeder Atemzug? Verwandte Sterne haben über Ihrer und meiner Wiege geleuchtet. Sie sind ein getreuer Diener. Das ist eine wunderschöne Ausrede. Werfen Sie ab, was Sie bindet, fliehen Sie in eine Einöde, auf das Meer, in die Wüste, zum Pol, auf einen andern Planeten, zu sich selbst und erproben Sie, ob Sie sich noch am Glanz des Himmels und am Schein der Sonne zu freuen vermögen, und wenn das der Fall ist, wollen wir über das Thema weiter verhandeln. Schlagen wir uns in die Nacht wie Wölfe und sammeln wir Mut, denn das Opfer könnte wehrhaft werden.
    Unser Schutzbefohlener bereitet mir neuestens mancherlei Sorge, und ich muß gestehen, daß er es ist, der mich in dieser gottverlassenen Gegend noch immer festhält. Allerdings ohne daß er davon weiß, aber er ist mir in jeder Hinsicht verdächtig geworden, und ich komme mir bisweilen wie ein tauber Musikant vor, der auf einer verstopften Flöte spielen muß. Aber nicht nur dies hält mich, sondern auch noch ein andres, womit ich jedoch Ihr allen Empfindsamkeiten abholdes Ohr nicht belästigen will. Auf jeden Fall, und dies nun im Ernst, entlassen Sie mich aus der Arena. Ich bin betäubt, ich bin müde, meine Nerven gehorchen nicht mehr, ich werde alt, ich fange an, den Geschmack an Treibjagden zu verlieren; es erregt meinen Widerwillen, wenn der geängstigte Hase dem bissigsten der Hunde von selbst in die Zähne rennt, ich bin zu sehr Schöngeist, um dies noch ergötzlich zufinden, und ich könnte kaum dafür einstehen, daß ich nicht im letzten Moment eine Bresche in die Treiberkette schlage, die der verfolgten Kreatur zur Flucht verhilft. Dann aber könnte sich eine merkwürdige Metamorphose begeben, der Hase könnte zum Löwen werden und zurückkehren und die blutgierige Meute müßte zitternd in ihre Hinterhalte schleichen. Doch fürchten Sie nichts: dies sind Zuckungen und Phantasien eines senilen Gewissens. Auch ich bin ein treuer Diener – meiner selbst. Das Werk befiehlt. Unsre Lüste sind die Schergen der Seele. Nur der Dieb, der keine Philosophie im Leibe hat, verdient gehängt zu werden. In meiner Jugend hatte ich Tränen übrig, wenn ich mir den gitarrespielenden Knaben auf Carpaccios Bild in Venedig betrachtete, jetzt bliebe ich ungerührt, wenn man das Kind von der Mutterbrust risse und seinen Schädel am Rinnstein zerschmetterte. Das macht die Philosophie. Wenn sie sich besser bezahlte, wäre ich vielleicht fröhlicher. Bei dieser Gelegenheit muß ich Ihnen einen amüsanten Traum erzählen, den ich neulich hatte, eine wahre Gorgo von Traum. Wir beide, ich und Sie, feilschten um eine gewisse Ware; plötzlich unterbrachen Sie mich mit den Worten: »Nehmen Sie, was ich Ihnen biete, denn wenn Sie jetzt erwachen, bekommen Sie gar nichts.« Ich fand dies Argument göttlich und so wenig zu widerlegen, daß ich in der Tat, mit Angstschweiß bedeckt, erwachte.
    Genug, übergenug. Mein Jäger überbringt Ihnen diesen Brief, der durch seinen Mangel an Inhalt Ihren Verdruß erregen wird. Das beiliegende Akzept, um dessen Signierung ich bitte, dürfte Sie noch weniger versöhnen. Dem Lehrerhabe ich ein Halbjahr im voraus bezahlt. Er ist ein brauchbarer Mann, unbestechlich wie Brutus und lenkbar wie ein frommes Pferd. Wie alle Deutschen hat er Prinzipien, die sein Selbstvertrauen hervorbringen. Gott befohlen, die Nacht will ihren Schlaf.
Anbetung der Sonne
    Am Morgen nach Caspars Ankunft blieb der Lord länger als gewöhnlich in seinen Zimmern. Auch dann vermied er es noch, Caspar rufen zu lassen, und machte erst die tägliche Promenade. Als er zurückkam, ging Caspar vor dem Salon auf und ab; die Bewegung Stanhopes, als wolle er ihn umarmen, schien Caspar zu übersehen; er blickte steif zu Boden. Sie traten ins Zimmer, der Lord entledigte sich seines schneebedeckten Pelzmantels und stellte möglichst unbefangen Fragen: wie es Caspar ergangen, wie der Abschied, wie die Reise gewesen und mehr dergleichen. Caspar antwortete bereitwillig, wenn auch ohne Ausführlichkeit, war freundlich und keineswegs bedrückt oder vorwurfsvoll. Dies gab Stanhope zu denken, und es bedurfte einer gewissen Anstrengung von seiner Seite, um die sonderbar kühle Unterhaltung fortzusetzen. Er konnte sogar einen leisen Schrecken nicht unterdrücken, wenn er Caspar ansah, der ihn mit seinen weinfarbigen Augen fortwährend fremd betrachtete.
    Es war eine Erlösung, als der Polizeileutnant gemeldet wurde. Stanhope empfing ihn im Nebenzimmer; sie sprachen dort über eine halbe

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