Caspar Hauser oder Die Traegheit des Herzens
Ort; der Wald ist dicht bestanden, lautlose Einsamkeit fordert zu beschaulicher Stimmung auf. Hill erkannte den Platz mit Sicherheit wieder und zeigte zum Beweis auf Fußabdrücke und zerwühltes Moos. Sonst habe ich nichts Bemerkenswertes wahrgenommen.
Der Polizeisoldat, der durch seine Nachlässigkeit in Caspars Bewachung all dieses verschuldet hat, wurde der verdienten Strafe zugeführt.
Lord Stanhope an den Grauen:
Ich weile noch immer in dem weltentlegenen Nest, obwohl ich zu Weihnachten in Paris sein wollte. Ich sehne mich nach freier Konversation, nach Maskenbällen, nach der italienischen Oper, nach einem Spaziergang auf den Boulevards. Hier sind aller Augen auf mich gerichtet, jeder will teilhaben an mir; von einer gewissen Hofratsfamilie, die nicht in den besten Verhältnissen lebt, wird erzählt, sie habe eine goldene Stehuhr, ein vortreffliches Erbstück, versetzt, um eine Soiree zu Ehren des Lords geben zu können. Man verdächtigt eine Dame, Frau von Imhoff – uralter Patrizieradel! –, der näheren Beziehung zu mir, vielleicht nur deswegen, weil die Armein einer unglücklichen Ehe lebt, an der sich der Klatsch seit Jahren mästet. Scherzhafter Unsinn. Die Dame ist, leider, ein makelloser Mensch. Das übrige Volk ist kaum der Rede wert. Die guten Deutschen sind servil bis zum Erbrechen. Der behäbige Kanzleidirektor, der mit einer sklavisch tiefen Reverenz den Hut vor mir zieht, würde mir mit Vergnügen die Stiefel putzen, wenn ich’s ihm befähle. Nichts hindert mich, hier eine Art Caligula zu spielen.
Zur Sache. Ein äußerer Grund meines Verweilens hier ist nicht mehr vorhanden. Der bislang vorgeschriebene Teil meiner Aufgabe ist erfüllt. Was verlangt man noch von mir? Wessen hält man mich noch weiterhin für fähig? Hat Euer Hochgeboren oder dero Gebietende noch intime Wünsche, so wäre es geraten, sie in Bälde vernehmen zu lassen, denn der ergebenst Unterzeichnete ist satt. Die Mahlzeit füllt ihn bis zum Hals, er muß jetzt ans Verdauen denken. Ich gehe mit der Absicht um, in Rom Prälat zu werden oder mich hinter Klostermauern einzusperren, vorher muß ich noch das nötige Schwergeld für den Ablaß beisammen haben; wenn der Papst kein Einsehen hat, kehr’ ich in den Schoß der puritanischen Kirche zurück, so bin ich wenigstens der Sorge und des Ekels enthoben, mir den Bart wachsen lassen zu müssen. Auch in meinem Land gibt es Masken und jedenfalls ein würdigeres Kostüm. Ist der Minister H. in S., der Pensionist, von allen Vorgängen verständigt und hat man ihn gegen Überfälle gesichert? An welcher Bankstelle kann ich meinen nächsten Zinsgroschen beheben? Dreißig Silberlinge; mit welcher Zahl darf ich die Summe multiplizieren?Denn auf Multiplikation ist nun einmal mein Leben gestellt. Herr von F. ist vor einigen Tagen nach München abgereist; dies zur Notiz. Das bewußte Dokument ist, wie ein ranziges Stück Fleisch, von einem gewissenhaften Raben in Aussicht genommen, vorläufig aber noch unzugänglich. Wie hoch normiert man den Preis und, sollten im Kriegsfalle kühnere Maßregeln geboten sein, was billigt man demjenigen zu, der die Hölle um einen neuen Untertanen reicher machen will? Ich muß dies wissen, gegenwärtig stellen auch die geringsten Diener des Satans ihre Ansprüche. Wenn Herr von F. so weit kommt, mit der Königin zu verhandeln, wie er beabsichtigt, muß ein geeigneter Repräsentant gefunden werden, um das angefachte Feuer zu löschen; freilich wird dann das ranzige Stück Fleisch anfangen zu stinken. Dabei fällt mir ein penetranter Passus in dem letzten Schreiben von Eurer Hochgeboren ein; wie lautet er doch gleich: »Sie beginnen, mein lieber Graf, zu viel Wert auf das Verruchte und Verfluchte zu legen, sobald es nur einen Anschein von Zweckmäßigkeit und Behendigkeit hat.« Ich nehme diesen Worten die Schminke und lese: es ist unglaublich, was Sie für ein Spitzbube sind. Kennen Sie die hübsche Replik des alten Fürsten M., als ihn der amerikanische Gesandte ins Gesicht hinein einen Betrüger nannte? »Mein Lieber, Teurer,« erwiderte der Fürst mit seinem sanftesten Lächeln, »daß Sie doch in Ihren Ausdrücken niemals maßhalten können!« Ja, halten wir Maß, wenn auch nicht im Tun, so doch im Reden. Wozu Sottisen? Ein Schurke wird geboren so gut wie ein Edelmann. Wer sich anmaßt, in den Lauf eines fremden Schicksalszu pfuschen, ist ein Philister oder ein Dummkopf, wenn nicht beides. Wer kennt mich? Wer will mich richten oder formen? Verrät
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