Cassia & Ky – Die Ankunft: Band 3 (German Edition)
fast den Atem raubt.
Jeder ist mit seinem Wahlstein in der Hand erschienen. Einige, wie Anna, haben zwei Steine dabei, weil sie von anderen gebeten wurden, sie bei der Wahl zu vertreten. Damit das System funktioniert, müssen es alle unterstützen und einander vertrauen.
Oker und Leyna stehen neben den Trögen, und andere, darunter Colin, fungieren als Beobachter, damit niemand heimlich Steine von einem in den anderen Trog legen kann. Heute müssen wir uns zwischen zwei Positionen entscheiden, der von Oker und der von Leyna. Einige sind noch unentschlossen, aber die meisten gehen geradewegs auf Okers Trog zu und werfen ihren Stein hinein. Sie sind der Meinung, wir sollten allen geeigneten Patienten Okers CamassiaLösung verabreichen. Die Vorsichtigeren werfen ihren Stein in den Trog von Leyna, die mehrere verschiedene Heilmittel ausprobieren will.
Okers Trog ist schon beinahe voll.
Die Entscheidung wird im Schatten des großen Dorfsteins getroffen, und als alle ihre kleinen, namentlich gekennzeichneten Steine in den Händen halten, denke ich an Sisyphus und die Legende vom Steuermann, für die ich vor Monaten den Kompass eingetauscht habe. Glaube und Mythos sind so eng miteinander verwoben, dass man nie sicher sein kann, was Märchen und was Wirklichkeit ist.
Doch vielleicht ist das gar nicht wichtig. Das hat Ky einmal gesagt, als er mir auf dem Hügel die Geschichte von Sisyphus erzählte. Selbst wenn Sisyphus nicht existiert hat, haben viele von uns doch so ähnlich gelebt wie er. Daher entspricht die Geschichte durchaus der Wahrheit.
Xander drängt sich durch die Menge auf mich zu. Er sieht erschöpft und energiegeladen zugleich aus, und als ich meine freie Hand nach seiner ausstrecke, nimmt er sie mit starkem Griff. Ich frage ihn, ob er schon gewählt hat.
»Noch nicht«, antwortet er. »Ich wollte dich vorher fragen, wie sicher du dir bei der Liste bist, die du uns zuletzt geschickt hast.«
Wir stehen nahe genug bei Oker, dass er hören kann, was wir sagen, aber ich gebe Xander trotzdem eine ehrliche Antwort. »Ich bin mir überhaupt nicht sicher. Ich glaube, ich habe irgendetwas übersehen.« Ein Funke der Erleichterung spiegelt sich auf Xanders Gesicht wider. Meine Aussage hat ihm die Entscheidung erleichtert. Jetzt muss er sich nicht sozusagen zwischen mir und Oker entscheiden.
»Was könntest du deiner Meinung nach übersehen haben?«, fragt mich Xander.
»Noch weiß ich es nicht genau«, antworte ich, »aber ich glaube, es hat irgendetwas mit den Blumen zu tun.«
Xander wirft seinen Stein in den Trog von Oker und fragt: »Was willst du jetzt unternehmen?«
Ich bin noch nicht bereit abzustimmen, weil mir die nötigen Informationen fehlen, um eine verantwortungsbewusste Wahl zu treffen. Vielleicht beim nächsten Mal, wenn ich dann noch hier bin. Daher greife ich in meine Jackentasche, hole das Papierkunstwerk meiner Mutter heraus und lege den Stein hinein, neben den Mikrochip. »Ich enthalte mich.« Vorsichtig falte ich das Papier genau an den Knicklinien meiner Mutter wieder zusammen. Als ich den Kopf hebe, trifft mein Blick den von Oker. Sein Gesichtsausdruck ist prüfend, nachdenklich und etwas beunruhigend. Ich wende den Blick ab und sehe Xander an.
Er fragt: »Wie sich Ky wohl entschieden hätte?«
»Ich weiß es nicht«, sage ich.
Leise sagt Xander: »Folgendes ist geplant: Ky soll das Heilmittel erhalten, das die meisten Stimmen erhält, weil er als Letzter versunken ist.«
»Nein!«, protestiere ich. »Sollen sie es doch zuerst den anderen Patienten geben!« Aber wie kann ich sie umstimmen?
»Ich glaube, dass dieses Heilmittel helfen wird«, verspricht Xander. »Oker ist sich so sicher. Ich denke …«
»Xander!«, sagt Oker und unterbricht abrupt unsere Unterhaltung. »Lass uns gehen!«
»Bleibst du nicht bis zur Wasserprobe?«, fragt Leyna überrascht.
»Nein«, antwortet Oker.
»Die Farmer werden das aber als Beleidigung auffassen«, gibt sie zu bedenken. »Das ist ihr Teil der Abstimmungszeremonie.«
Oker winkt ab, bereits auf dem Weg zu seinem Labor. »Keine Zeit!«, sagt er. »Das werden sie wohl verstehen.«
»Bist du gleich in der Krankenstation?«, fragt mich Xander.
»Ja«, antworte ich. Ich werde bei Ky bleiben und ihn beschützen, bis ich weiß, dass wir ein Heilmittel haben, das wirklich hilft. Aber ich kann mich noch nicht losreißen, ich will die Abstimmung bis zum Ende erleben.
Colin tritt vor, hebt die Hand, um die Menge zum Schweigen zu bringen, und
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