Cassia & Ky – Die Ankunft: Band 3 (German Edition)
ihr Leiden nicht aufhalten.
»Warum glaubst du nicht an die Erhebung?«, frage ich sie. »Oder an den Steuermann?«
»Ich weiß nicht«, antwortet sie. »Ich wünschte, ich könnte es.«
»Woran glaubst du?«, frage ich sie.
»Mein Vater hat mir erklärt, dass die Erde ein riesiger Stein ist«, sagt sie. »Sie dreht sich um sich selbst und kreist durch den Himmel. Und wir alle leben auf ihr. Daran glaube ich.«
»Und warum fallen wir nicht runter?«, frage ich.
»Weil es eine Kraft gibt, die uns festhält.«
»Dann bewegt sich die Erde also in diesem Moment unter meinen Füßen.«
»Genau.«
»Aber ich spüre ja gar nichts.«
»Eines Tages vielleicht«, erwidert sie. »Wenn du dich hinlegst und ganz still liegen bleibst.«
Nachdem sie es ausgesprochen hat, sehen wir uns an. Still liegen bleiben.
»Ich habe gehofft ihn wiederzusehen, bevor dies hier passiert«, seufzt sie.
Beinahe hätte ich erwidert: Ich bin doch bei dir. Aber ich weiß, es ist nicht genug, weil ich nicht der bin, den sie gewollt hat. Ich habe schon einmal erlebt, dass mich jemand so angesehen hat. Zwar nicht durch mich hindurch, aber an mir vorbei, auf der Suche nach jemand anderem.
»Ich habe gehofft«, sagt sie, »dass er mich suchen und finden würde.«
Nachdem sie versunken ist, hole ich eine Krankentransportliege, die die Sanitäter stehen gelassen haben, lege sie darauf und hänge die Infusion an den Ständer. Ein Medic kommt vorbei und sagt: »Auf der Station ist kein Platz mehr.«
»Sie ist eine von uns«, erwidere ich. »Wir finden schon noch einen Platz für sie.«
Da der Medic ebenfalls das rote Mal hat, beginnt er sofort, Lei zu untersuchen. Als er sich zu ihr hinunterbeugt, erkennt er sie wieder und sagt: »Lei! Eine der besten. Sie beide haben doch schon vor dem Ausbruch der Seuche zusammengearbeitet, richtig?«
»Ja.«
Mitfühlend sieht mich der Medic an. »Man hat das Gefühl, damals in einer ganz anderen Welt gelebt zu haben, oder?«
»Ja«, sage ich. Es stimmt. Ich fühle mich seltsam distanziert, als sehe ich mir selbst dabei zu, wie ich Lei versorge. Ich weiß, dass das an meiner Erschöpfung liegt, aber könnte es sein, dass man sich so fühlt, wenn man versunken ist? Dass der Körper reglos daliegt, aber der Geist wandert?
Vielleicht schwebt ein Teil von Lei jetzt im medizinischen Zentrum umher und besucht alle ihr bekannten Orte. Sie sieht nach den Kranken in den Sälen. Sie atmet die frische Nachtluft auf dem Hof ein. Sie steht am Terminal und betrachtet die Fischerin. Vielleicht hat sie auch ihren Geliebten gefunden, und die beiden sind jetzt zusammen.
Ich schiebe Lei in den Saal zu den anderen Patienten. Jetzt sind es hundertundeiner, die an die Decke oder zu einer Seite starren. Der Chefarzt mahnt mich über Terminal, schlafen zu gehen.
»Gleich«, erwidere ich. »Ich möchte sie nur richtig hinlegen.« Ich rufe eine Krankenschwester, um mir bei der Untersuchung zu helfen.
»Sie ist so weit stabil«, bestätigt die Schwester meinen Eindruck. »Keine Vergrößerung der inneren Organe, Blutdruck annähernd normal.« Bevor sie geht, berührt sie leicht meine Hand und sagt: »Tut mir leid.«
Ich blicke in Leis unbewegte Augen. Ich habe schon mit vielen versunkenen Patienten geredet, weiß aber nicht, was ich zu ihr sagen soll. »Es tut mir leid«, wiederhole ich die Worte der Krankenschwester. Doch das ist nicht genug: Ich kann ihr nicht helfen. Ich kann absolut nichts für Lei tun.
Plötzlich kommt mir eine Idee, und bevor ich mir ihre Unsinnigkeit bewusst machen kann, eile ich den Flur hinunter zur Cafeteria, wo Lei die Bilder betrachtet hat.
»Bitte ausdrucken, bitte ausdrucken«, befehle ich dem Terminal. Schließlich rede ich auch mit den Versunkenen, warum also nicht mit der Maschine?
Das Terminal tut, was ich sage, und druckt alle hundert Bilder aus, nachdem ich den Druckbefehl gegeben habe. Ich raffe die bunten, leuchtenden Blätter zusammen und nehme sie mit. Dasselbe habe ich für Cassia getan, bevor sie fortgegangen ist: Ich habe versucht, ihr etwas zu geben, vom dem ich wusste, dass sie es gerne mitnehmen würde.
Die meisten Kollegen halten mich für verrückt, aber eine der Krankenschwestern findet meine Idee gut und glaubt, sie könne hilfreich sein. »Und wenn nicht, dann habe ich wenigstens mal ein bisschen Abwechslung«, bemerkt sie, holt Klebeband und Faden aus dem Vorratsschrank und hilft mir, die Bilder an der Decke über den Patienten aufzuhängen.
»Terminalpapier zerfällt
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