Cassia & Ky – Die Ankunft: Band 3 (German Edition)
Geheimnisvoll, oder?«
Ich glaube zu verstehen, was sie meint. »Wie der Steuermann?«
»Nein«, erwidert sie.
In der Ferne hören wir Schreie und laute Rufe. Ein Kampfjet braust über uns hinweg.
»Was geschieht nur da draußen?«, fragt Lei.
»Vermutlich dasselbe wie immer«, antworte ich. »Die Leute versuchen, die Barrikade zu überwinden.« Die Feuer jenseits der Mauer flackern in unheimlichem Orange, aber wir haben uns an den Anblick gewöhnt. »Ich weiß nicht, wie lange die Wachen sie noch aufhalten können.«
»Sie würden nicht hereinwollen, wenn sie wüssten, wie es hier drinnen aussieht«, seufzt Lei.
Nachdem sich meine Augen an das schwache Licht gewöhnt haben, erkenne ich, dass Leis Erschöpfung in körperlichen Schmerz umgeschlagen ist. Ihr Gesicht sieht eingefallen aus, und ihre sonst so lebhafte Stimme klingt niedergeschlagen.
Sie ist krank.
»Lei!«, sage ich. Am liebsten würde ich sie unterhaken und aus der Cafeteria hinausführen, aber ich bin mir unsicher, wie sie auf diese Geste reagieren würde. Einen Moment lang blickt sie mir in die Augen. Dann dreht sie sich langsam um und zieht ihre Bluse hoch. Rote Striemen bedecken ihren Rücken.
»Du brauchst es nicht auszusprechen«, sagt sie, steckt ihre Bluse wieder in die Hose und dreht sich zu mir um. »Ich weiß es schon.«
»Du brauchst dringend eine Infusion«, rate ich. »Und zwar sofort!« Meine Gedanken überschlagen sich. Du hättest nicht bleiben sollen, du hättest gehen sollen wie die anderen, bis wir ein Heilmittel gefunden hätten …
»Ich will mich nicht hinlegen«, erwidert Lei.
»Komm mit«, sage ich, und diesmal nehme ich ihren Arm. Ich spüre die Wärme ihrer Haut durch ihren Ärmel hindurch.
»Wohin gehen wir?«, fragt sie mich.
»In den Hof«, antworte ich. »Du kannst dich auf eine Bank setzen, während ich einen Infusionsschlauch und einen Beutel hole.« Auf diese Weise braucht sie nicht drinnen zu sein, wenn sie versinkt. Sie kann so lange wie möglich an der frischen Luft bleiben.
Sie sieht mich mit ihren erschöpften, schönen Augen an und bittet: »Beeil dich. Ich möchte nicht allein sein, wenn es so weit ist.«
Als ich mit dem Infusionszubehör zurückkehre, wartet Lei mit erschöpft eingesunkenen Schultern im Hof. Ein seltsamer Anblick, wo sie sich sonst stets so aufrecht hält. Sie streckt den Arm aus, und ich führe die Nadel in ihre Vene ein.
Die Flüssigkeit beginnt zu tropfen. Ich halte den Beutel höher als ihren Arm, damit die Infusion fließt.
»Erzähl mir eine Geschichte«, bittet sie. »Ich kann die Stille nicht ertragen.«
»Welche von den Hundert Geschichten möchtest du hören?«, frage ich. »Die meisten kenne ich auswendig.«
In ihrer müden Stimme schwingt ein Hauch Überraschung mit. »Kennst du denn keine anderen?«
Ich schweige. Nein, ich kenne keine anderen. Die Erhebung hat uns noch keine neuen gegeben, und ich selbst bin nicht besonders kreativ. Ich kann nur auf das zurückgreifen, was ich kenne.
»Doch«, sage ich und denke angestrengt nach. Ich entscheide mich für eine Episode aus meinem eigenen Leben. »Vor ungefähr einem Jahr, damals in der Gesellschaft, war ein junger Mann in eine junge Frau verliebt. Sie gefiel ihm schon lange Zeit, und er hoffte, sie als Partnerin zu erhalten. Tatsächlich wurden sie gepaart. Er war sehr glücklich.«
»War das alles?«, fragt Lei.
»Ja, das war alles«, sage ich. »Findest du die Geschichte zu kurz?«
Lei fängt an zu lachen und klingt für einen Moment wieder ganz normal. »Das bist du«, sagt sie. »Ist doch logisch. Aber das ist doch keine Geschichte!«
Ich muss ebenfalls lachen. »Tut mir leid, ich bin nicht besonders gut im Geschichtenerzählen.«
»Aber du liebst deine Partnerin«, sagt Lei und lacht nicht mehr. »Das weiß ich. Und du weißt, dass ich meinen Partner liebe.«
»Ja«, sage ich.
Sie sieht mich an. Die Flüssigkeit tropft durch den Schlauch.
»Ich kenne eine alte Geschichte über Menschen, die nicht gepaart werden konnten«, sagt sie. »Er war eine Aberration. Sie war eine Bürgerin und Pilotin. Sie gehörten zu den ersten ›Verschwundenen‹.«
»›Verschwundenen‹?«
»Ja. So nennt man die, die aus der Gesellschaft geflüchtet sind«, erklärt Lei. »Oder ihre Kinder hinausgeschmuggelt haben. Es gab Piloten, die sie für eine Gegenleistung ausgeflogen haben.«
»Von so etwas habe ich ja noch nie gehört!«
»Es stimmt aber«, erwidert Lei. »Ich habe es selbst miterlebt. Einige Eltern hätten
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