Casteel-Saga 01 - Dunkle Wasser
IE S CHATTEN DER V ERGANGENHEIT
Cal und ich richteten Kitty auf dem Rücksitz des Autos eine Bettstatt her, verstauten die Koffer und fuhren an einem sonnigen Augusttag los. Kitty war nun schon zwei Monate krank, und nach ihrem seltsamen Verhalten zu schließen, würde sie auch nicht so bald gesund werden.
Gestern noch hatten ihr die »Mädels« die Haare frisiert. Ich hatte sie heute morgen mit einem Schwamm gewaschen, ihr einen hübschen, rosa Büstenhalter angezogen und sie in ihren nagelneuen Hosenanzug gekleidet. Ich tat mein Bestes, um sie zu frisieren – und war auch mit dem Ergebnis zufrieden. Dann schminkte ich sie, damit sie hübsch aussah. Zum ersten Mal sagte Kitty während einer Fahrt kein Wort. Sie lag wie tot und erinnerte an die Puppe, die sie so grausam verbrannt hatte.
Die Dinge, die wir auf dieser Rückreise nach West Virginia hätten besprechen müssen, blieben alle ungesagt. Cal und ich saßen auf der vorderen Sitzbank, mit so viel Raum zwischen uns, daß Kitty noch bequem Platz gehabt hätte, wenn sie nur imstande gewesen wäre zu sitzen. Bald würden Cal und sie bei Kittys Familie wohnen, und er könnte sein Verlangen nach mir nicht mehr stillen. Ich flehte zu Gott, daß die Settertons niemals erführen, was zwischen Cal und mir geschehen war. Dieser Gedanke bedrückte mich so, daß mir ganz schlecht wurde. Dachte Cal das gleiche wie ich? Bereute er nun seine Liebeserklärungen an ein dreckiges Hillbilly-Mädchen?
Dies war unsere Stunde der Wahrheit oder sie würde zumindest bald kommen. Seine Augen waren starr auf die Straße gerichtet, und ich sah mir die Landschaft an. In ein paar Wochen begann die Schule wieder. Bis dahin mußten wir eine Lösung für Kitty gefunden haben.
Unwillkürlich mußte ich diese Reise im Sommer mit der Winterreise vor zwei Jahren vergleichen. Alles, was mich damals beeindruckt hatte, war nun eine Selbstverständlichkeit. Der goldene Torbogen zu McDonald’s entlockte mir keine Bewunderung mehr, und die Hamburger schmeckten auch nicht mehr, da ich mittlerweile in den besten Restaurants von Atlanta gegessen hatte. Was würde Cal jetzt mit mir machen? Konnte er seine Liebe und sein Verlangen einfach abdrehen, so wie Kitty einfach ihre alte Persönlichkeit abgeschaltet hatte? Ich seufzte und zwang mich, an meine Zukunft zu denken, daß ich bald auf mich selbst gestellt sein würde. Ich hatte mich bereits bei sechs Universitäten beworben. Cal hatte gemeint, daß er mit mir aufs College gehen wollte, um sein Studium abzuschließen, während ich mit meiner akademischen Ausbildung begann.
Als wir uns auf halbem Weg nach Winnerrow befanden, wurde mir klar, warum Miß Deale zu uns in die Berge gekommen war. Um ihre Begabungen denen zugute kommen zu lassen, die es am nötigsten hatten. Wir waren die Ausgestoßenen und Unterprivilegierten aus dem Kohlenrevier. Vor langer Zeit hatte ich Tom einmal im Spaß gesagt, daß ich wie Miß Deale werden wollte; jetzt, wenn ich mich so umsah, war es mein sehnlichster Wunsch, eine so anregende Lehrerin wie sie zu werden. Ich war siebzehn; Logan besuchte bestimmt schon ein College und würde in den Sommerferien kurz zu Hause sein. Würde er Schuld und Scham auf meinem Gesicht ablesen können? Würde er mir ansehen, daß ich keine Jungfrau mehr war? Großmutter hatte immer gesagt, daß sie sofort feststellen könne, ob ein Mädchen »unrein« sei. Logan durfte ich nichts über Cal erzählen, niemandem durfte ich es erzählen, nicht einmal Tom. Während ich so dasaß und nachdachte, lastete das Gewicht meiner Schuld schwer auf mir.
Wir ließen Meile für Meile hinter uns. Schließlich erreichten wir die bergige Gegend, in Serpentinen ging es immer höher hinauf. Bald wurden die Abstände zwischen den Tankstellen größer. Die luxuriösen, weitausladenden Motels wurden durch kleine Hütten ersetzt, die in schattigen Wäldern versteckt lagen. Schäbige, graue Häuser kündigten eine kleine, abgelegene Stadt an. Dann ließen wir auch diese hinter uns. Auf die Willies, die finsteren Berge, führte keine Schnellstraße. Was für einen beängstigenden Klang dieser Name jetzt hatte.
Ich sah die Gegend mit den gleichen Augen, wie meine Mutter sie vor über siebzehn Jahren gesehen haben mußte. Sie wäre jetzt erst einunddreißig Jahre alt gewesen, wenn sie noch gelebt hätte. Wie furchtbar, daß sie so jung sterben mußte. Nein, sie hätte nicht sterben müssen. Unwissenheit und die Ignoranz, die auf den Bergen herrschte,
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