Casteel-Saga 01 - Dunkle Wasser
hatten sie umgebracht.
Wie hatte Mutter nur Luke Casteel heiraten können? Welcher Wahn hatte sie aus einer kultivierten Gegend wie Boston getrieben und sie hierher verschlagen, wo Erziehung und Bildung als lächerlich betrachtet wurden?
Ich warf einen Blick auf Kitty. Sie schien eingeschlafen zu sein.
Vor uns auf der Straße kam eine Kreuzung. Cal bog nach rechts ab, wir ließen die kleine, ungeteerte Straße, die hoch hinauf zu unserer armseligen Hütte führte, links liegen. Alles kam mir wieder so bekannt vor, als hätte ich es nie verlassen. Die Erinnerungen kehrten auf einmal wieder zurück, meine Nase kitzelten die mir bekannten Düfte von Geißblatt, Erdbeeren und reifen Himbeeren.
Fast hörte ich die Banjos aufspielen, hörte wie Großvater auf seiner Geige fiedelte und sah Großmutter in ihrem Schaukelstuhl, sah wie Tom durch die Wiesen lief, hörte Unsere-Jane weinen, während Keith immer in ihrer Nähe stand und liebevoll auf sie aufpaßte. Trotz aller Unwissenheit und Dummheit, die das Leben in den Bergen bestimmt hatten, gab es auch die Freuden und Schönheiten, die Gott uns geschenkt hatte.
Nach jeder Meile wurde ich ungeduldiger und aufgeregter.
Dann erreichten wir die großen, grünen Felder vor Winnerrow; gepflegte Felder der Farmer mit Sommergetreide, das bald geerntet werden würde. Nach den Farmen kamen die Häuser der Ärmsten im Tal, denen es nicht viel besser ging als den echten Hillbillys. Über den armen Talbewohnern befanden sich die Hütten der Bergarbeiter, dazwischen lagen die kleinen Schuppen, in denen der verbotene Schnaps gebrannt wurde.
Tief unten im Tal wohnten die Wohlhabenden, dort, wohin der fruchtbare Schlick der Berge von den schweren Frühlingsregen hinuntergeschwemmt wurde. Er war der Humus für die Gärten jener Familien in Winnerrow, die es am wenigsten brauchten. Deshalb wuchsen um die großen, reichen Häuser in Winnerrow auch die schönsten Tulpen, Narzissen, Iris und Rosen. Kein Wunder also, daß man die Stadt Winnerrow nannte – die Straße der Gewinner. Jeder, der es zu etwas gebracht hatte, wohnte in der Hauptstraße – der Main Street, und alle, die nicht weitergekommen waren, lebten in den Bergen. Die Besitzer der Kohleminen hatten sich die prunkvollen Villen gebaut wie die Goldminenbesitzer, deren Bergwerke schon vor langer Zeit versiegt waren. Jetzt gehörten die Häuser den Baumwollfabrikanten und deren Geschäftsführern.
Cal fuhr die Main Street hinab, vorbei an den pastellfarbenen Villen der Reichen, dann folgten die weniger prachtvollen Häuser der Mittelklasse, der Leute, die in einem Bergwerk als Aufseher oder Verwalter arbeiteten. Winnerrow war auch mit Baumwollspinnereien gesegnet – oder verflucht, die den Stoff für Bettwäsche, Tischtücher, Decken und Teppiche herstellten. Baumwollspinnereien, in denen die Luft mit winzigen, unsichtbaren Fädchen geschwängert war, die die Arbeiter einatmeten, so daß sie früher oder später genauso ein Lungenleiden bekamen wie die Bergarbeiter in den Kohlenminen. Nie wurden die Spinnereibesitzer dafür gerichtlich belangt – ebensowenig wie die Bergwerkbesitzer. Da war nichts zu machen. Man mußte seinen Lebensunterhalt verdienen. So lagen die Dinge eben. Man mußte sich eben auf das Risiko einlassen.
Dies alles ging mir durch den Kopf, als ich die schönen Häuser anstarrte, denen einst meine ganze kindliche Bewunderung gehört hatte. Und sie hatten auch jetzt nichts von ihrer Faszination für mich verloren. Schau dir die Veranda an, hörte ich Sarah sagen. Die Stockwerke kannst du an den Fenstern zählen, den ersten, zweiten, dritten Stock. Sieh dir die Kuppeln an, einige Häuser haben zwei, drei und vier davon. Häuser, die so hübsch wie auf Ansichtskarten waren.
Wieder sah ich mich nach Kitty um. Diesmal hatte sie die Augen geöffnet. »Kitty, wie geht es dir? Brauchst du irgend etwas?«
Ihre wasserhellen Augen richteten sich auf mich. »Will nach Haus.«
»Du bist fast zu Hause, Kitty, fast…«
»Will nach Hause«, wiederholte sie wie ein Papagei, dem man nur diesen einen Satz beigebracht hatte. Beklommen drehte ich mich um. Warum hatte ich noch immer Angst vor ihr?
Cal fuhr langsamer, dann bog er in die Einfahrt eines hübschen Hauses, das hellgelb und weiß angemalt war. Drei Stockwerke im reinsten Zuckerbäckerstil, wahrscheinlich um die Jahrhundertwende erbaut, mit kleinen Veranden im Erdgeschoß und im ersten Stock und einem kleinen Balkon im letzten Stockwerk, in dem sich
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