Casteel-Saga 01 - Dunkle Wasser
der Stadt.«
»‘ne Hühnerdiebin ist sie!«
»Sehen Sie ‘n Huhn an mir?« fragte ich tollkühn.
»Hab’ noch keine Leibesvisitation gemacht«, sagte einer der Jungen, kaum älter als Logan. »Ich durchsuch’ sie, Vater.«
»Finger weg!« fuhr ich ihn an. »Hab’ nur nach dem Hund meines Vaters gesucht, und das ist ja wohl gesetzlich erlaubt!«
Ich hatte das Lügen sehr schnell gelernt, um Tom und Fanny genügend Zeit zu geben, unbehelligt auf die Berge zu kommen.
Diese Riesen ließen mich wieder in den Wald zurück, in der Überzeugung, daß ich zwar keine Hühnerdiebin, aber eine große Lügnerin war.
Tom und Fanny war es gelungen, fünf Hühner zu stehlen, und Tom hatte sich noch sechs Eier geschnappt, obwohl nur noch drei davon ganz waren, als er die Hütte erreicht hatte. »Zwei Hühner heben wir auf«, sagte ich, als ich mit rotem Gesicht und atemlos zu Hause angekommen war, »damit sie legen und Unsere-Jane und Keith jeden Tag Eier essen können.«
»Wo warst du die ganze Zeit?«
»Auf einem Baum, und die Hunde standen drum herum.«
Bald waren wir schon recht geschickt im Stehlen. Wir gingen nie zweimal an die gleiche Stelle. Großvater paßte auf die zwei Jüngsten auf, während wir jede Nacht loszogen und auf allerhand Ideen kamen, wie wir soviel wie möglich mitgehen lassen konnten. Im Dämmerlicht der Winternachmittage warteten wir heimlich ab, bis die Hausfrauen aus den Kofferräumen ihrer Autos die vollen Einkaufstüten auspackten. Einige Frauen gingen dabei vier- bis fünfmal hin und her… und das gab uns die Gelegenheit, schnell eine Tüte zu schnappen und loszurennen. Es war zweifellos Diebstahl, aber wir sagten uns, daß wir damit unser Leben retteten und daß wir eines Tages den Frauen alles zurückzahlen würden.
Eines Tages war es wieder jedem von uns gelungen, eine Einkaufstüte zu erwischen, gerade noch rechtzeitig, bevor eine Frau losschrie: »Hilfe! Hilfe! Diebe!« Es stellte sich dann aber heraus, daß meine Tüte nur Papierservietten, Wachspapier und Klopapier enthielt. Fanny bog sich vor Lachen. »Bist blöd, du mußt die schweren Tüten schnappen.«
Zum ersten Mal in unserem Leben hatten wir richtiges Klopapier, Servietten und Wachspapier – aber was sollten wir bloß damit anfangen? Wir hatten ja nichts, das wir einpacken oder im Kühlschrank aufbewahren konnten.
Tom und ich lagen am Boden nebeneinander auf den Schlafdecken. Wir wollten, daß Großvater im Bett schlief, um seinen alten Knochen etwas Weiches zu gönnen. »Es bedrückt mich«, flüsterte Tom, »von anderen Leuten zu stehlen, die hart für ihr Geld gearbeitet haben. Ich muß eine Arbeit finden, auch wenn ich erst um Mitternacht nach Hause komm’. Ich kann ja immer ein bißchen aus den Gärten der Reichen stehlen. Die brauchen nicht noch ‘n Extragericht.«
Das Problem war nur, daß die Leute im Tal die Jungen vom Berg immer für Diebe hielten, und es war schwer, irgendeinen Job zu finden. Schließlich mußten wir uns wieder auf Diebestour nach Winnerrow begeben. Eines Tages hatte Tom einen Obstkuchen gestohlen, der auf einem Fensterbrett zum Auskühlen gestanden hatte. Er rannte mit dem Kuchen den ganzen Weg zurück in die Hütte, um die Köstlichkeit mit uns zu teilen. Noch nie hatte ich einen so appetitlich aussehenden Kuchen gesehen, der Kuchenteig ging makellos bis an die Ränder und oben auf dem Kuchen waren in einem Blumenmuster Löcher eingestochen, woraus der Obstsaft quoll.
Es war ein Apfelkuchen, und er schmeckte so gut, daß ich es gar nicht übers Herz brachte, Tom seine Diebeskünste vorzuwerfen.
»Macht ja nichts«, sagte Tom mit strahlenden Augen. »Den Kuchen, den wir gerade verdrückt haben, hat die Mutter deines Freundes gemacht. Und ihr wißt ja, daß Logan alles täte, um Heavenlys Familie glücklich zu machen.«
»Wer ‘s Logan?« wollte Großvater wissen.
»Genau«, brummte eine tiefe, mir bekannte Stimme, »wer ist Logan? Und wo, zum Teufel, ist meine Frau? Warum sieht’s hier aus wie im Saustall?«
Vater!
Er trat mit großen Schritten in den Raum; über seiner Schulter hing ein großer Sack aus Rupfen, offensichtlich voller Nahrungsmittel. Er schleuderte das Mitgebrachte auf den Tisch.
»Wo, zum Teufel, ist Sarah?« tobte er und blickte jeden von uns zornentbrannt an.
Keiner fand die richtigen Worte, um es ihm zu sagen. Vater stand da, groß und schlank, sein bronzefarbenes Gesicht war glattrasiert, und er war blasser als sonst. Er sah so aus, als hätte er große
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