Casteel-Saga 01 - Dunkle Wasser
Qualen ausstehen müssen. Er hatte mindestens fünf Kilo abgenommen, und trotzdem sah er frischer, sauberer und in gewissem Sinne sogar gesünder aus als beim letzten Mal. Er war mir immer als ein schwarzhaariger Riese vorgekommen, mit einer Whiskyfahne und dem eigenartigen, überwältigenden männlichen Geruch. Ich zitterte bei dem Gedanken, daß er nun zurückgekehrt war; zugleich war ich erleichtert. So gemein er sein konnte, wenigstens würde er uns vor dem Hungertod bewahren, jetzt, wo der richtige Winter angebrochen war und es von einem Tag auf den anderen schneien würde und der Wind wieder um unsere wackelige Hütte pfiff und sich seinen Weg hineinbahnte, bis uns die Knochen erfroren.
»Kann hier keiner reden?« fragte er höhnisch. »Dachte, ich schicke meine Kinder in die Schule. Lernen wohl nichts dort. Nicht einmal, ihren eigenen Vater zu begrüßen und ihm zu sagen, daß sie sich freuen, ihn wiederzusehen.«
»Wir freuen uns«, sagte Tom schließlich. Ich stand auf und ging zum Ofen hin, um etwas zu kochen, nun da wir, so wie der Sack aussah, genügend hatten. Und ich wollte auf meine Art Vater mit meiner Gleichgültigkeit verletzen, so wie er es so oft mit mir getan hatte.
»Wo ist meine Frau?« schrie er wieder. »Sarah!« brüllte er. »Bin zurück.« Man hätte sein Geschrei bis ins Tal hören können – aber es brachte Sarah nicht zurück. Er sah im Schlafzimmer nach, hatte die Vorhänge auseinandergeschoben und stand breitbeinig davor, während er fassungslos hineinsah. »Draußen aufm Klo?« fragte er und wandte sich dabei an Tom. »Wo ist Mutter?«
»Ich sag’ es dir gern«, sagte ich, als Tom zu stottern anfing.
Er blitzte mich mit seinen dunklen Augen an. »Ich hab’ Tom gefragt. Antworte mir, Junge – wo, zum Teufel, ist deine Mutter?«
Ich genoß es, daß sich mir endlich die Chance bot, seinen Stolz auch einmal zu verletzen – und ich war bereit, sie zu nutzen. Ich sah es ihm an, daß er sich jetzt darüber Gedanken machte, ob Sarah wohl tot sei – so wie Großmutter, die während seiner Abwesenheit gestorben war. Ich hielt einen Augenblick inne, bevor ich ihn anherrschte.
»Deine Frau hat dich verlassen, Vater«, sagte ich und starrte ihn haßerfüllt an. »Sie konnte keine Leiden und Schmerzen mehr ertragen, nachdem ihr Baby tot auf die Welt gekommen war. Sie konnte es hier in der Hütte nicht mehr ertragen, die ewige Not und einen Ehemann, der seinen Spaß haben mußte, während sie nichts hatte. Sie ist abgehauen und hat dir einen Zettel hinterlassen.«
»Glaub’ ich nicht!« brüllte er aus Leibeskräften.
Ohne ein Sterbenswörtchen zu sagen, starrten ihn alle an, sogar Fanny.
Schließlich fand Großvater die Kraft, sich aus dem Schaukelstuhl zu erheben und seinem Sohn gegenüberzustehen. »Hast jetzt keine Frau mehr, mein Sohn.«
In seiner Stimme lag Mitleid für seinen Sohn, der schon zweimal verloren hatte und sicherlich sein ganzes Leben lang verlieren würde, obwohl es einzig und allein seine eigene Schuld war. Das waren meine bösen Gedanken in jener Nacht, als unser Vater nach einem Monat in die Hütte zurückgekehrt war.
»Deine Sarah hat ihre Siebensachen gepackt und ist mitten in der Nacht auf und davon«, schloß Großvater mühsam. Der Umgang mit Worten fiel ihm schon lange schwer.
»Jemand soll den Zettel holen«, flüsterte Vater, als hätte ihn alle Kraft verlassen. Er schien auf einmal so alt wie Großvater.
Stumm und mit stiller Schadenfreude ging ich auf ein Regal zu, wo wir ganz oben unsere wenigen wertvollen Sachen aufhoben. Ich griff nach einer Zuckerdose mit abgesprungenem Rand, von der mir Großmutter erzählt hatte, daß Vater sie einmal für Engel neu gekauft hatte. Daraus nahm ich den kleinen Zettel, der viermal gefaltet war.
»Lies vor«, befahl Vater, der völlig regungslos dasaß und eigenartig aussah.
»Lieber…!« las ich,
»Kann nicht länger mit einem Mann sein, der sich einfach nicht genug um mich kümmert. Gehe jetzt wohin, wo es besser ist. Auf Wiedersehen und viel Glück. Sosehr ich dich früher geliebt habe, so sehr hasse ich dich jetzt.
Sarah«
»Ist das alles?« schrie Vater und riß mir den Zettel aus der Hand. Er versuchte, die krakelige, kindliche Schrift zu lesen. »Haut ab, läßt mich zurück mit fünf Kindern, und dann wünscht sie mir viel Glück.« Er zerknüllte den Zettel und warf ihn in die geöffnete Ofentür. »Zur Hölle mit ihr!« sagte er dumpf, bevor er brüllend aufsprang und seine geballten
Weitere Kostenlose Bücher