Casteel-Saga 03 - Gebrochene Schwingen
dachte ich, es sei besser, hinaufzugehen und nach ihm zu sehen. Ich klopfte an seine Tür, um ihn zu fragen, ob ich ihm etwas bringen sollte, aber er antwortete nicht. Und dann…«
»Ja?« Curtis sah so verlegen aus, wie ich ihn noch nie gesehen hatte. Er war etwas rot geworden und zog die ganze Zeit am Kragen seines Hemdes, als ob er ihm eine Nummer zu klein wäre.
»Ich bemerkte, daß die Türe zu Mr. Tattertons Zimmer offenstand, und so sah ich hinein. Ich wollte wissen, ob alles in Ordnung war. Du liebe Güte«, sagte er und schüttelte den Kopf.
Ich wurde langsam ungeduldig. »Was ist nun, Curtis? Sie wissen doch selbst, daß ich mich beeilen muß.«
»Ich weiß, aber… aber es wäre mir recht, wenn Sie selbst einmal nach ihm sehen könnten. Ich hoffe, mit Mr. Tatterton ist alles in Ordnung.«
Einen Moment lang starrte ich ihn an. Ich dachte, Tony hätte sicherlich einen Kater, den er sich wohl verdient hatte.
»Drake, geh mit Curtis hinunter! Ich komme gleich nach«, sagte ich.
»Danke, Mrs. Stonewall«, sagte Curtis. Er nahm Drake an der Hand, und sie gingen hinunter. Ich ging weiter den Flur entlang zu Jillians ehemaligem Zimmer und warf einen Blick hinein, wie Curtis es getan hatte.
Tony lag ausgestreckt auf Jillians Bett, noch immer bewußtlos, betäubt vom Alkohol. Aber das, was Curtis schockiert hatte, war etwas anderes, und das schockierte auch mich. Tony hatte das Nachthemd angezogen, das er mit zu mir gebracht hatte, und das ganze Zimmer duftete nach Jasmin. Wer weiß, welche Wahnvorstellungen er gehabt hat, dachte ich. Und wieviel er getrunken haben mußte! Aber ich fühlte kein Mitleid mit ihm, nur Ekel. Er schnarchte, als ich die Tür hinter mir schloß.
»Er wird sich wieder erholen«, beruhigte ich Curtis, »lassen Sie ihn einfach in Ruhe.«
»Sehr gut, Mrs. Stonewall«, sagte er. »Ich danke Ihnen.«
An der Eingangstüre hielt ich noch einmal inne und blickte über das Grundstück von Farthinggale Manor. Die Herbstwinde wurden stärker und kühler. Sie rüttelten an den Bäumen und rissen bunte Blätter von den Zweigen. Es regnete rote, gelbe und braune Blätter, die wie wild geworden die lange Auffahrt hinaufwirbelten und über den grünen Rasen flogen. Es war, als ob die Natur einen Vorhang aus Farben machen wollte. Zweige, ihrer Pracht entledigt, hingen nackt unter den Wolken, die silbrig schimmerten. Ich fröstelte und versuchte, mich mit meinen eigenen Armen zu wärmen. Dann ging ich schnell zur Limousine.
Drake wartete schon, das kleine Feuerwehrauto hatte er auf seinem Schoß. Obwohl wir ihm neue Spielsachen geschenkt hatten, hing er noch immer an diesem. Er sah so klein und verloren aus in dem großen Auto, wie ein Vogeljunges in seinem Nest. Ich legte den Arm um ihn und zog ihn an mich, während Miles startete.
Ich blickte kein einziges Mal zurück.
14. KAPITEL
Nirgends ist es so wie zu Hause
Nach Hause. Nach Hause. Die ganze Zeit waren diese Worte in meinem Kopf, als wir ins Flugzeug nach Atlanta stiegen. Der kleine Drake hielt meine Hand ganz fest. Mit großen Augen starrte er auf das geschäftige Treiben im Flughafen. »Sag mir noch mal, wo wir hinfahren, Heaven«, bat er, als wir es uns auf unseren Sitzen in dem großen Düsenflugzeug bequem gemacht hatten.
»Wir fahren nach Hause, Drake. Heim nach Winnerow. Wo ich aufgewachsen bin und wo auch dein Daddy aufgewachsen ist. Und du wirst jetzt auch dort aufwachsen«, erklärte ich und versuchte, meine Stimme fröhlich und aufgeregt klingen zu lassen. »Und du wirst dort glücklich sein, sehr glücklich!«
»Aber Heaven, ich dachte, ich würde in dem Schloß wohnen. Mir hat es dort gefallen.« Es klang enttäuscht.
»Ich verspreche dir, daß es dir in Winnerow noch besser gefallen wird. Wir können zum Beispiel das Haus besuchen, in dem dein Daddy gewohnt hat. Und es gibt dort viele Berge und Wälder, in denen man spielen kann. Sie heißen die Willies. Es gibt dort Geigenspieler und eine wunderschöne Schule und Spielplätze und viele Kinder, mit denen du spielen kannst. O Drake, es ist ein wunderbarer Ort für einen kleinen Jungen.«
Bald waren wir in den Wolken, und Drake schlief ein. Das gab mir Zeit, die Ereignisse der letzten Nacht noch einmal zu durchleben, und mit ihnen die Lügen, die sich immer enger und enger um mich schlangen, die mich zu ersticken drohten. Es war jetzt meine Aufgabe, mich aus Tonys Griff zu lösen, ein für allemal. Das war mir unwiderruflich klar geworden. Von Tony
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