Casteel-Saga 03 - Gebrochene Schwingen
vertraut erschien mit dieser Laut, daß mein Herz zu klopfen begann. Ich griff nach den Streichhölzern in der linken Hand, aber meine Hände zitterten so sehr, daß ich keines anzünden konnte.
»Geh fort«, flüsterte er jetzt mit einer rauhen, offensichtlich verstellten Stimme. »Zünde die Kerze nicht an. Geh einfach nur fort.«
Ich konnte sehen, wie er die Arme hob, als ob er sich vor meinem Blick verbergen wollte. Dann drehte er sich um und betrat einen der Tunnel, die nirgendwohin führten. Ich zögerte. Ein Teil von mir riet mir, genau das zu tun, was er gesagt hatte. Manchmal sollten wir das Schicksal nicht herausfordern, sagte meine innere Stimme. Manchmal sind wir stolzer und entschlossener, als uns gut tut. Dies wäre nicht das erste Mal, daß ich zu einer Weggabelung käme, nur um dann doch den gefährlicheren Weg einzuschlagen.
Es war jedoch mehr als nur einfach Sturheit, die mich nun vorwärts trieb, und auch mehr als nur Wut auf Tony. Nein, ein anderer Teil von mir wollte jetzt nicht mehr vorsichtig sein. Er hatte bisher tief in meinem Innern geschlummert. Ich fühlte, wie dieses Alter ego von mir die Augen öffnete und sich bemerkbar machte, wie sein Herz wieder mit dem meinen schlug. Es kam hervor und verschmolz mit mir. Ohne noch mehr Zeit zu vergeuden, zündete ich die Kerze an, die mich durch die Dunkelheit meiner eigenen Gedanken hin zur Antwort führen würde.
Ich ging in den finsteren Tunnel hinein. Die Kerze hob den dunklen Vorhang um mich herum, damit ich darunter durchschlüpfen konnte. Aber ich war mir bewußt, daß er hinter mir wie ein eiserner Vorhang wieder herunterfiel. Ich mußte an Rye Whiskeys Geschichten von Geistern und aufgeschreckten Ahnen denken. Gäbe es einen besseren Weg als diese geheimen Gänge, in denen sie von ihren ruhelosen Gräbern aus wandern könnten? All die Ängste meiner Kindheit stiegen wieder in mir hoch. Wäre es möglich, daß Troys verwirrter Geist hierher zu diesen dunklen Erdadern gefunden hatte? Würde ich jenes dunkle Nest betreten, das auch den jungen Geist meiner Mutter beherbergte? Ich schaute zurück auf die schwarze Wand. Ob es zu spät war, sich anders zu entscheiden? Hatte ich die Grenze schon überschritten?
Ich kam um die erste Biegung herum. Der Tunnel ging noch ein wenig weiter. Vor mir ragte die Mauer auf, die Tony hatte bauen lassen, um Eindringlinge von außen abzuhalten. Wo war die dunkle Silhouette, die ich noch vor wenigen Augenblicken angesprochen hatte? Könnte ich direkt an ihr vorbeigegangen sein? Ich verlangsamte meine Schritte, hob die Kerze höher und hielt sie fast auf Armeslänge von mir weg.
Plötzlich spürte ich einen Luftzug an meiner rechten Seite und drehte mich gerade in dem Augenblick um, als er aus den dunkelsten Schatten heraustrat. Ich senkte die Kerze, und er legte die Hand um die kleine Flamme, um das Licht zu löschen.
Aber er kam zu spät. Der Kerzenschein war über sein Gesicht gehuscht. Seine Augen glitzerten weiter in der Dunkelheit, sogar nachdem die Kerze verlöscht war. Diese Augen würde ich sofort und jederzeit erkennen.
»Troy!« schrie ich.
»Heaven«, wisperte er.
Einen Augenblick lang war ich mir nicht sicher, ob ich ein Gespenst oder eine Vision meines eigenen, angsterfüllten und verwirrten Geistes vor mir hatte.
Ich zündete die Kerze erneut an, um die Wahrheit herauszufinden.
7. KAPITEL
Troy
»Du bist keiner von Rye Whiskeys Geistern«, flüsterte ich. Langsam beugte ich mich vor und berührte seinen Arm. Durch die unterirdischen Gänge strich ein leichter Luftzug, der die Kerze auszulöschen drohte. Der Kerzenschein huschte über sein Gesicht. Seine dunklen Augen, so tief wie ein Waldsee, sahen noch dunkler und tiefer aus.
»Nein«, antwortete er, »obwohl ich mich zeitweise so fühle.« Um seine schön geschwungenen Lippen spielte ein leises Lächeln. Er trug ein weißes Seidenhemd und enggeschnittene schwarze Hosen. Sein weißes Hemd hatte in der Dunkelheit und dem flackernden Kerzenschein einen gelblichen Stich.
»Das verstehe ich nicht. Was ist geschehen? Was geschieht hier?« Ich bemerkte den leicht hysterischen Tonfall in meiner Stimme. Er hörte ihn auch, denn er griff behutsam nach meiner Hand.
»Laß uns zur Hütte zurückgehen«, sagte er leise, »ich werde dir alles erzählen.«
Ich folgte ihm durch die dunklen Gänge und fühlte mich, als ob ich ins Totenreich hinabgestiegen sei und ihn dort aus den Fängen des ewigen Schlafs befreit hätte.
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