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Casteel-Saga 04 - Nacht über Eden

Casteel-Saga 04 - Nacht über Eden

Titel: Casteel-Saga 04 - Nacht über Eden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: V.C. Andrews
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Ich weiß, daß du die Kraft hast, wieder gesund zu werden und das Werk fortzusetzen, das deine Mutter und ich in Winnerrow begonnen haben.«
    »Wir sind bei dir, Annie; wir sind ein Teil von dir.«
    »Mammi«, flüsterte ich.
    Doch ich konnte die Wahrheit nicht verdrängen: Ein Abschnitt meines jungen Lebens war unwiederbringlich zu Ende! Ich war hier, um von Mammi und Daddy Abschied zu nehmen, aber ich nahm auch Abschied von dem kleinen Mädchen, das ich gewesen war. Ich sagte Lebewohl zu dem hellen Klang der Spieluhren und dem Lachen der vereinten Familie, die sich so nahe gewesen war. Ich nahm Abschied von den Umarmungen und Küssen und ermutigenden Worten, von Mammis Liebkosungen, die mich getröstet hatten, wenn die Welt hart, grausam und kalt erschien. Ich nahm Abschied von Daddys Lachen, das unser ganzes Haus erfüllte und die Sorgen verjagte, die uns manchmal heimsuchten.
    Adieu, ihr Sonntagabende, an denen wir uns immer alle um den Tisch versammelten! Adieu, ihr wunderbaren Stunden unter dem Weihnachtsbaum, ihr festlichen Weihnachtsessen. Adieu, ihr großen Festmahle, an denen immer so viele Verwandte und Bekannte teilgenommen hatten! Adieu, ihr Abende, an denen wir Lieder am Klavier sangen und Scharade spielten. Adieu, ihr fröhlichen Ostertage, an denen wir Eier suchten und genüßlich Schokoladeosterhasen knabberten! Adieu, ihr Silvesternächte, in denen ich wachgeblieben war, um Mammi und Daddy zu küssen und ihnen ein gutes neues Jahr zu wünschen!
    Ja, es war ein Abschied von allem, was mein Leben mit Wärme und Schönheit erfüllt hatte…
    Ungläubig schüttelte ich den Kopf. Ich fühlte mich selbst wie ein Geist von jenseits des Grabes: leer, aller Gefühle beraubt, ziellos dahintreibend… Auch die letzten Worte des Pastors schienen mir ohne Inhalt, wie Asche, die der Wind davonwehte…
    »Lasset uns singen: ›Der Herr ist mein Hirte, mir wird es an nichts mangeln…‹«
    Ich vergrub mein Gesicht in den Händen und fühlte Drakes Hand auf meiner Schulter. Sobald das Lied zu Ende war und der Geistliche die Bibel zugeklappt hatte, drehte Drake meinen Rollstuhl zur Limousine um. Ich ließ mich zurückfallen und schloß die Augen.
    »Wir müssen sie rasch hinauf in ihr Bett bringen«, murmelte Tony. Miles öffnete die Wagentür; dann hoben er und Drake mich auf den Rücksitz. Ich war so schlaff wie ein feuchtes Handtuch. Tony glitt auf den Platz neben mir, und die Limousine wendete.
    Als wir den Friedhof verließen, öffnete ich die Augen, um mich noch einmal nach dem Grab umzusehen, doch mein Blick blieb an etwas anderem hängen…
    Da war sie wieder, die große, hagere Gestalt, die ich von meinem Fenster aus gesehen hatte!
    Wie ein Geist, den alle einzuladen vergessen hatten, war dieser Mann im Hintergrund erschienen, um der Trauerfeier ruhig und unbemerkt beizuwohnen und ebenso rasch wieder zu verschwinden. Tatsächlich schien nur ich ihn bemerkt zu haben…
    Ich nahm eine Schlaftablette und legte mich hin. Als ich wieder erwachte, war es bereits spät am Nachmittag. Das große Haus war still, und das Beruhigungsmittel hatte mich in einen so tiefen Schlaf versetzt, daß es einige Augenblicke dauerte, bis mir klar wurde, wo ich mich befand und was geschehen war. Zunächst schien es mir, als wäre alles nur ein Traum gewesen, ein endlos langer Alptraum… Doch dann sah ich den Rollstuhl, der auf mich wartete, und die auf meinem Kosmetiktisch aufgereihten Medizinfläschchen, Handtücher und Salben. Nein, ich hatte nicht geträumt, alles war wirklich passiert.
    Als ich aus dem Fenster blickte, sah ich, daß aus den flauschigen Wattebäuschen eine dunkelgraue Wolkendecke geworden war. Der Nachmittag wirkte dadurch düster und trostlos wie ein Nachklang der Trauerfeier am Morgen… Ich stemmte mich zum Sitzen hoch und goß mir aus dem Krug auf meinem Nachttisch ein wenig Wasser ein. Die Stille um mich herum verwirrte mich. Wo war Mrs. Broadfield? Und wo war Tony? War Drake nach Boston zurückgefahren?
    Ich läutete die kleine Glocke, die an einem Bettpfosten hing, und wartete. Niemand kam. Ich läutete erneut, diesmal länger und lauter. Nichts. Hatten sie erwartet, daß ich länger schlafen würde? Anscheinend, dachte ich, aber ich hatte Hunger. Ich hatte das Mittagessen verschlafen, und jetzt war es schon fast Zeit zum Abendessen.
    »Mrs. Broadfield?« rief ich.
    Eigenartig, daß sie sich nicht in der Nähe meines Zimmers aufhielt. Normalerweise kam sie immer sofort angelaufen, wenn ich mich rührte.

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