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Casteel-Saga 04 - Nacht über Eden

Casteel-Saga 04 - Nacht über Eden

Titel: Casteel-Saga 04 - Nacht über Eden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: V.C. Andrews
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depressiven Stimmung entsprach! Es war, als weigerte sich die Natur, auf meine Gefühle Rücksicht zu nehmen. Statt eintöniger grauer Wolken zogen dichte weiße Wattebäusche über den wasserblauen Himmel. Die Brise, die über mein Gesicht strich und einige Haarsträhnen auf meiner Stirn aufrichtete, war sanft und warm. Überall wo ich hinsah, flatterten und zwitscherten Vögel. Ein intensiver Geruch von frisch gemähtem Gras erfüllte die Luft.
    Um mich herum waren Leben und Glück, keine Spur von Tod und Traurigkeit. Doch der strahlende, wundervolle Tag vergrößerte noch mein Gefühl der Einsamkeit. Niemand konnte das verstehen, niemand außer Luke. Wenn er doch nur hier wäre und meine Hand halten würde! Wir würden uns ansehen, und er würde nicken und wissen, was ich fühlte. Seine Finger würden sich mit meinen vereinigen, und ich hätte nicht mehr das Gefühl, als habe sich die Welt gegen mich verschworen, um meinen Schmerz noch zu verschlimmern. Dann würde ich wieder das überwältigende Bedürfnis und die Sehnsucht verspüren, ins Leben zurückzukehren. Stärker als alles andere würde mich der Wunsch beherrschen, wieder laufen zu können…
    Verzweifelt versuchte ich, diese Kraft auch ohne Luke zu finden. Ich preßte meine Hände gegen die Armlehnen des Rollstuhls und versuchte, meine Füße gegen die Fußstützen zu pressen, doch die Muskeln in meinen Beinen versagten mir den Gehorsam. Da war vielleicht der Anflug eines Gefühls in meinen Waden und Schenkeln, aber mehr nicht. Enttäuscht lehnte ich mich zurück.
    Miles fuhr die Limousine so nah wie möglich an die Treppe heran. Im selben Augenblick, als er und Tony ausstiegen, erschien auch der Pastor. Er war groß und hager und hatte harte Gesichtszüge und blondes Haar, das von ersten grauen Strähnen durchzogen war. Tony schüttelte ihm die Hand, und dann schritten die beiden die Stufen herauf. Miles folgte ihnen.
    »Das ist meine Urenkelin Annie.«
    »Gott segne Sie, meine Liebe«, sagte der Pastor, nachdem er meine Hand ergriffen hatte. »Sie sind eine starke und mutige junge Frau.«
    »Danke.«
    Tony forderte Miles und Drake mit einer Geste auf, mich und den Rollstuhl zum Wagen zu bringen. Rye Whiskey stand ebenfalls dort. Er trug einen abgetragenen schwarzen Anzug. Sein schütteres graues Haar hatte er mit Pomade in Form gebracht und straff nach hinten gekämmt. Sein Lächeln und seine liebevollen, sanften Augen wärmten mein fröstelndes Herz.
    Wir fuhren durch das große Tor und bogen dann nach rechts ab in Richtung des Familienfriedhofs der Tattertons. Je näher wir dem großen marmornen Grabmal kamen, desto mehr verkrampfte sich mein Herz. Es fühlte sich an wie eine kleine Faust, die sich immer stärker zusammenballte, bis es nicht mehr fester ging. Ein kleiner Schrei entfuhr meiner Kehle. Drake ergriff meine Hand und drückte sie fest. Als der Wagen anhielt, stieg Drake aus und kam auf meine Seite, um mir in den bereitstehenden Rollstuhl zu helfen. Er und Miles hoben mich hoch und setzten mich vorsichtig hinein. Dann drehte Drake den Rollstuhl um, und ich hatte plötzlich den großen Stein vor mir, der die Inschrift trug:
     
    STONEWALL
    LOGAN ROBERT  HEAVEN LEIGH
    GELIEBTER GATTE GELIEBTE GATTIN
     
    Ich starrte mit einer Mischung aus Ehrfurcht und Ungläubigkeit darauf. Die Tatsache, daß meine Eltern tot waren, war mir nie so bewußt gewesen wie in diesem Augenblick. Trotzdem wurde mein Körper nicht weich und welk wie eine zarte Blume, sondern hart und kalt wie der Stein, auf den meine Augen gerichtet waren.
    Der Pastor ging zum Grab, schlug die Bibel auf und begann zu sprechen. Als seine Worte an meine Ohren drangen, legte sie mein Gehirn sofort in irgendeinem Archiv in der Bibliothek meines Gedächtnisses ab. Ich sah, wie sich sein Mund bewegte, wie er die Seiten umblätterte, aber keines seiner Worte erreichte mich wirklich.
    Statt dessen hörte ich die Worte, die meine Mutter sicherlich gesagt hätte, wenn sie jetzt hätte bei mir sein können.
    »Annie«, hätte sie gesagt, »du mußt wieder gesund und kräftig werden. Du darfst nicht zu einem schwachen, kränklichen Wesen werden, das in den Schatten von Farthy dahinwelkt. Wenn du das tust, wirst du vergehen wie eine Blume ohne das Licht der Sonne.«
    »Meine Annie«, würde Daddy dann sagen. »Ich wünschte, wir könnten jetzt bei dir sein und dir mit der Liebe und Unterstützung zur Seite stehen, die wir dir dein ganzes Leben lang gegeben haben, aber das ist uns nicht möglich.

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