Casteel-Saga 04 - Nacht über Eden
still da und dachte über alles nach, was passiert war. Vielleicht hatte Tony recht… Ich sollte mich wirklich nicht so in meine Krankheit und in traurige Gedanken vergraben. Er hatte versprochen, mich unverzüglich von Mrs. Broadfield zu erlösen. Aber selbst mit einer einfühlsamen, mitfühlenden Krankenschwester würde ich mich eingesperrt fühlen!
Tony konnte mich mit dem größten Luxus umgeben – Fernseher, Stereoanlage, was auch immer – aber ich würde trotzdem nicht zufrieden sein. Ich vermißte meine Kleider, mein Zimmer, den Geruch meiner Bettdecke und meines Kissens, meine weiche, mit Daunen gefüllte Tagesdecke.
Ich vermißte es, kichernd mit Freundinnen zu telefonieren und allein oder gemeinsam mit Freunden in dem kleinen Lokal der Musik zu lauschen. Ich vermißte es, mit Menschen in meinem Alter Parties zu feiern und zu tanzen und zu lachen. Ich vermißte den Anblick der blühenden Blumen vor unserem Haus und ich vermißte Mammi, wie sie entspannt und ruhig im Wohnzimmer saß und ab und zu den Kopf nach mir wandte. Ich vermißte Daddy, wie er in seiner Zeitung las, nachdenklich die großen Seiten umblätterte und gelegentlich aufsah, um mir zuzuwinken.
Und mehr als alles andere vermißte ich Luke. Ich vermißte es, ihn zu sehen, wie er die Straße herunterkam oder auf der Veranda auf mich wartete. Ich vermißte unsere nächtlichen Telefongespräche.
Es hatte eine Zeit gegeben, in der kaum ein Tag verging, ohne daß wir uns sahen oder miteinander redeten, und nun schien er Tausende von Meilen entfernt, aus meinem Leben verschwunden… War es eine andere Frau, die ihn so in ihren Bann zog? Es brach mir fast das Herz, wenn ich nur daran dachte. Aber Tony hatte recht. Es war nicht richtig, daß ich mich so sehr in meinen Kummer und meine Ängste vergrub. Wenn ich Luke wiedersehen wollte, mußte ich mich zusammennehmen und rasch wieder gesund werden.
Ich mußte, so weit das möglich war, zu meinem früheren Ich zurückfinden. Die Malerei konnte mir dabei helfen. Ich fuhr zu der Staffelei und packte die Dinge aus, die ich brauchen würde, um anzufangen.
Aber was sollte ich malen, fragte ich mich. Wie ein Magnet zog mich das Fenster an, und ich blickte nach draußen zum Familienfriedhof der Tattertons. Ich griff nach dem Bleistift und begann zu skizzieren; ich arbeitete wie im Rausch, als würde einer von Rye Whiskeys Geistern meinen Arm lenken und meine Finger über die blanke, weiße Leinwand führen. Und während ich so zeichnete, begannen die Tränen zu fließen… Wie immer verlor ich mich in meiner Arbeit, sobald ich begonnen hatte zu malen. Es war fast so, als wäre ich zu einer winzigen Figur in der Skizze geschrumpft, die meinem größeren Ich zeigte, was es zeichnen sollte. Die Welt um mich herum verblaßte; ich verlor jegliches Gefühl dafür, wieviel Zeit verging und wo ich mich befand. Ich hörte nicht einmal, als Tony zurückkam, und als ich ihn endlich erblickte, hatte ich keine Ahnung, wie lange er bereits hinter mir gestanden und mir zugesehen hatte. Ich zuckte zusammen, als ich ihn bemerkte.
»Entschuldige, wenn ich dich erschreckt habe, aber ich wollte dich nicht stören. Ich weiß, wie sehr ihr Künstler Eure Konzentration braucht. Jillian ist genauso. Ich meine, sie war genauso, wenn sie etwas zeichnete oder malte. Ich konnte stundenlang hinter ihr stehen, ohne daß sie die geringste Notiz von mir nahm. Das hat mich immer erstaunt – nein, fasziniert sollte ich wohl besser sagen. Und ich finde dich genauso faszinierend, wenn du arbeitest, Annie«, fügte er hinzu. Er sagte das mit einer solchen Wärme, daß ich unwillkürlich errötete.
Dann fiel ihm ein, warum er gekommen war. »Oh, ich habe mich gefragt, ob du wohl eine Schlaftablette brauchst. Bevor Mrs. Broadfield wutschnaubend das Haus verlassen hat, hat sie mir noch einige Instruktionen gegeben. Wenn sie das nicht getan hätte, hätte ich ihr kein Zeugnis ausgestellt, und sie hätte niemals wieder eine Stelle bekommen.«
»Nein, ich glaube ich werde auch heute ohne ein Medikament gut schlafen können, Tony. Vielen Dank.«
»Schön. Dann lasse ich dich jetzt noch ein wenig arbeiten und komme später noch einmal vorbei, um zu sehen, ob du beim Zubettgehen irgendwelche Hilfe brauchst.« Ein Lächeln huschte über sein Gesicht, und er wandte sich zum Gehen.
»Oh, Tony«, rief ich. Er drehte sich wieder um. »Hast du mit Luke gesprochen?«
»Oh, das habe ich noch nicht geschafft, Annie. Ich mußte mich ja erst um die
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