Casteel-Saga 04 - Nacht über Eden
totenstill.
Ich bewegte mich zur Eingangstür und öffnete sie. Das Sonnenlicht flutete herein wie eine Woge warmen Wassers. Ich blinzelte, dann schloß ich die Augen und ließ mich zurücksinken, als wäre ich an einem Strand. Es war so wundervoll, die frische Luft und die Wärme zu spüren, nachdem ich so lange in meinem Zimmer eingeschlossen gewesen war! Meine Kraft wuchs, und als das Blut rascher in meinen Adern pulsierte, war es mir so, als seien meine Beine wieder gesund.
Ich richtete mich auf und rollte meinen Stuhl hinaus in den Säulengang. Und da war sie, genau wie Tony sie beschrieben hatte: eine hölzerne Rampe. Aber sie sah entsetzlich steil aus. Sollte ich es wagen, ohne Hilfe hinunterzufahren?
Zaudernd hielt ich inne. Die Worte des Arztes fielen mir ein. War ich nicht dabei, mich zu übernehmen? Doch dann, während ich die Rampe noch anstarrte, dachte ich an Luke und seine Worte: »Strebe nach den höchsten Gipfeln.« Sollte ich jetzt etwa umdrehen und niedergeschlagen in mein Zimmer zurückkehren?
Ich bin stark genug, sagte ich zu mir. Mein Körper würde mich nicht enttäuschen. Langsam näherte ich mich der Rampe. Wie laut mein Herz schlug! Aber ich weigerte mich, klein beizugeben. Ich mußte es schaffen.
Die Räder rollten vorwärts. Direkt vor der Rampe zauderte ich noch einmal und dann… begann ich hinunterzufahren. Meine Arme hatten kaum genug Kraft, die Räder unter Kontrolle zu halten. Es war schwieriger, als ich gedacht hatte. Doch ich kam wohlbehalten unten auf dem Kiesweg an. Ich hatte es geschafft!
Ich sah einen Arbeiter am Pool. Er trug einen Gegenstand ins Gartenhaus, der wie ein Liegestuhl aussah. Sonst schien niemand da zu sein. Einige Augenblicke lang starrte ich auf den großen Pavillon und dachte an Luke. Vielleicht war es ein schrecklicher Fehler gewesen, daß ich so häßliche Dinge über ihn gedacht hatte. Hatte ich Drakes Erklärungen zu schnell akzeptiert – daß Luke sich nur deshalb verändert hatte, weil er jetzt auf dem College neue Freunde – und vor allem Mädchen – kennenlernte? Er würde sofort hierherkommen, ich wußte es.
Wie sehr wünschte ich mir, ich würde jetzt auf den Pavillon in Winnerrow blicken und Luke würde dort auf mich warten!
Ein Stück weit hinter dem Pavillon befand sich der Irrgarten. Als ich ihn jetzt aus meiner sitzenden Position heraus sah, erinnerte ich mich daran, was mir Drake über ihn erzählt hatte: Er war ihm so riesig erschienen, als er ihn zum ersten Mal gesehen hatte; damals, als er selbst noch ein kleiner Junge gewesen war. Der Irrgarten wirkte furchteinflößend und geheimnisvoll…
»Würdest du gerne hineinfahren?« fragte mich plötzlich eine Stimme. Vor Schreck fiel ich beinahe aus meinem Rollstuhl. Ich versuchte umzudrehen, um zu sehen, wer da hinter mir stand. Es dauerte einige Zeit, denn der Fremde rührte keinen Finger, um mir zu helfen. Ich fuhr einige Male rückwärts und dann schräg vorwärts, bis ich den Rollstuhl schließlich gewendet hatte. Zuerst sah ich niemanden und dachte schon, ich hätte mir die Stimme nur eingebildet.
Dann trat er hinter einer hohen Hecke hervor.
Noch verhüllten Schatten sein Gesicht, doch ich wußte es sofort: Vor mir stand der Mann, der damals am Grabe meiner Eltern gekniet war. Es schien, als wäre er aus meinen Skizzen und Bildern herausgetreten, als hätte er meine Phantasiewelt verlassen, um jetzt leibhaftig vor mir zu stehen.
19. K APITEL
A UF DER ANDEREN S EITE DES I RRGARTENS
»Wer sind Sie?« Fasziniert starrte ich zu ihm hinauf. Er war aus dem Schatten getreten und stand, die Hände in den Hosentaschen, vor mir. Er war zwar groß und hager, doch er hatte breite Schultern. Sein widerspenstiges kupferbraunes und an den Schläfen graumeliertes Haar fiel in leichten Locken auf den weißen Kragen seines Malerkittels.
Er hatte sehr feine Gesichtszüge, obwohl er nicht eigentlich gutaussehend war. Sein Gesicht erinnerte eher an eine antike griechische Statue. Nun neigte er den Kopf ein wenig zur Seite und zog eine seiner dunklen, kräftigen Augenbrauen hoch, während er mich aufmerksam betrachtete. Sein Blick war so interessiert, daß ich mich geschmeichelt fühlte. Er schien etwas an mir entdeckt zu haben, was ihn sichtlich bewegte, ja rührte. Seine Augen wurden schmal, wie ich es von Tony kannte, wenn sein Blick sich eintrübte und er wirres Zeug zu stammeln begann. Warum sagte er nichts? Er grüßte mich nicht einmal. Ich begann zu zittern, so
Weitere Kostenlose Bücher