Casteel-Saga 04 - Nacht über Eden
Schlafzimmertür, hin- und hergerissen zwischen Erwartung und vergeblicher Hoffnung. Ach, wenn Mammi doch nur noch ein einziges Mal durch diese Tür käme und wir noch einmal wie früher miteinander sprechen könnten! Wie sehr sehnte ich mich jetzt danach, von ihr getröstet und ermutigt zu werden! Wenn ich meine Augen schloß, würde ich vielleicht ihre Schritte im Flur und ihr sanftes, freundliches Lachen vernehmen… Und dann würde sie zur Tür herein treten.
Sie würde die Fenster aufreißen, die Rouleaus hochziehen und rufen: »Steh auf und sei glücklich, daß du lebst und gesund bist. Verschwende keinen Augenblick deines Lebens, denn jeder Augenblick ist ein Geschenk, und du möchtest doch nicht undankbar sein, oder?«
»O Mutter, aber ich bin doch immer noch gelähmt!«
»Unsinn«, hörte ich sie sagen. »Du sagst deinen Beinen jetzt, daß sie lange genug Ferien gemacht haben und daß es Zeit ist, wieder an die Arbeit zu gehen!«
Hörte ich mich da nicht selbst lachen? Ich konnte spüren, wie sie mit ihren Händen über meine Beine strich und ihnen auf magische Weise ihre Kraft zurückgab.
»Alles in Ordnung«, sagte sie, als sie sich von meinem Bett erhob. Dann entfernte sie sich und schien zu einem Schatten zu werden… »Mammi? Mam… Mammi!« Sie war verschwunden, und die Sonne war von einer riesigen, dunklen Wolke verdeckt. Mein Zimmer war plötzlich fahl und düster; tiefe Schatten hüllten mich ein…
»Mammi!«
»Annie?«
»Was… wer… Luke?«
Er stand neben meinem Bett.
»Ist alles mit dir in Ordnung? Ich hörte dich schreien.«
»O Luke… bitte halt mich, halt mich fest«, schluchzte ich.
Rasch setzte er sich auf mein Bett und nahm mich in die Arme. Ich vergrub mein Gesicht an seiner Brust und schluchzte, während er mir zärtlich übers Haar strich und flüsterte: »Es ist alles in Ordnung. Ich bin doch bei dir.«
Dann spürte ich seine Lippen auf meiner Stirn. Seine tröstenden Küsse und sein warmer Atem auf meinen Wangen lösten in meinen Brüsten ein Prickeln aus. Ich spürte, wie unsere Herzen gegeneinander schlugen…
»Ich glaube, ich habe einen Alptraum gehabt«, stammelte ich beklommen. »Und als ich aufwachte, dachte ich, Mrs. Broadfield würde dastehen. Sie war so häßlich zu mir, Luke! Stell dir vor, sie hat mich gezwungen, in kochendheißem Wasser zu baden!«
Er berührte meinen Hals und nickte.
»Meine arme Annie. Wie furchtbar mußt du gelitten haben! Und ich war nicht an deiner Seite um dir zu helfen. Ich hasse mich dafür, daß ich so dumm war!«
»Es war nicht deine Schuld, Luke. Du konntest es nicht wissen.«
Wir hielten uns noch immer eng umschlungen. Schließlich löste er sich von mir und ließ mich sanft in die Kissen sinken.
»Annie, ich – «
Ich berührte seine Lippen, und er küßte meine Finger. Mein Blut geriet in Wallung, und mein Herz pochte wild…
»Ich werde jetzt besser schlafen gehen«, sagte er.
»Halt! Bleib noch ein Weilchen bei mir. Bleib, bis ich eingeschlafen bin. Bitte!«
»Also gut. Schließ die Augen.«
Das tat ich. Er zog die Bettdecke über meinen Busen bis zum Kinn und strich sie glatt. Ich fühlte seine Finger über mein Gesicht und meine Schläfen gleiten.
»Luke – «
»Schlaf nur, Annie. Ich bin ja da.«
Schließlich schlief ich wieder ein, diesmal allerdings ruhig und zufrieden. Und als ich von den ersten Sonnenstrahlen geweckt wurde, lag Luke zu meinen Füßen. Er hatte sich wie ein kleines Kind eingerollt. Einen Augenblick lang überlegte ich, wie er in mein Bett gekommen war. Sowie ich mich bewegte, zuckten erst seine Lider, dann öffnete er die Augen und starrte mich an. Die Erkenntnis, daß er in meinem Bett lag, traf ihn wie ein Guß Eiswasser. Rasch setzte er sich auf.
»Annie!« Er sah sich verwirrt um.
»Das ist aber ein hübscher Pyjama, Luke.«
»Was? Oh… ich muß eingeschlafen sein. Es tut mir leid.«
Er stand hastig auf.
»Es ist schon in Ordnung, Luke.« Wider meinen Willen mußte ich lächeln. Die Hose seines Pyjamas war ein wenig aus gebeult.
»Ich komme wieder, sobald ich mich angezogen habe«, sagte er und verließ schleunigst mein Zimmer.
Kurz nachdem ich am Morgen aufgewacht war, kam der alte Doktor Williams. Solange ich mich zurückerinnern konnte, war er stets unser Hausarzt gewesen. Er war ein kleiner, untersetzter Mann mit lockigem, pfirsichfarbenem Haar, das aber mittlerweile fast grau geworden war. Als er mein Zimmer betrat, begrüßte er mich mit einem so freundlichen, breiten
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