Casteel-Saga 04 - Nacht über Eden
Wie sehr wünschte ich mir, ihm zu sagen, daß ich immer seine Freundin bleiben würde, aber wie konnte ich? Wir waren Bruder und Schwester, und es schien, als stünde die ganze Welt zwischen uns und hindere uns daran, das zu tun, wonach wir uns wirklich sehnten. Denn im Innersten meines Herzens wußte ich, daß er ebenso empfand wie ich, und ein Teil unserer Herzen trauerte und sehnte sich danach, daß wir für immer beieinander bleiben könnten. Doch wir mußten so tun, als wäre es ganz selbstverständlich, daß jeder von uns jemand anderen finden würde, obwohl wir doch insgeheim darum beteten, daß es nie geschehen möge.
Sein Lächeln verschwand, und er war plötzlich so ernst wie ein Pfarrer bei der Sonntagspredigt.
»Ich weiß nicht…, nachdem du mein ganzes Leben lang meine Vertraute warst, wird das Mädchen, in das ich mich verliebe, vollkommen sein müssen.« Seine leuchtenden blauen Augen richteten sich wieder auf mich. Sein Blick war jetzt voller Wärme und Zuneigung, und es war mehr als nur eine brüderliche Zuneigung. Er betrachtete mich mit solchem Verlangen, daß ich spürte, wie eine heiße Welle in mir aufstieg und meine Wangen rötete. Wir sahen uns an wie ein junges Liebespaar. Es hatte keinen Sinn, es zu leugnen. Alles in mir verlangte danach, ihn zu umarmen. Ich konnte seine Lippen fast auf den meinen spüren. Er wartete und suchte in meinem Gesicht ein Zeichen der Ermutigung. Ich mußte dem Ganzen ein Ende setzen, ehe wir zu weit gingen.
»Ich werde dich später anrufen«, flüsterte ich atemlos und rannte über die Auffahrt zur Vordertür von Hasbrouck House. Als ich mich umwandte, stand er noch immer regungslos auf demselben Fleck. Er winkte, und ich winkte zurück. Dann huschte ich ins Haus und lief hinauf in mein Zimmer. Mein Herz klopfte so stürmisch wie nie zuvor. Warum mußte Luke, der mir näher stand als sonst irgendein Gleichaltriger, ausgerechnet mein Halbbruder sein? Wir teilten so vieles, unser Glück und unsere Trauer.
Wie sehr wünschte ich mir, er wäre irgendein Fremder, der in Harvard studierte. Ich würde Tony Tatterton in Farthinggale besuchen und Luke in Boston kennenlernen. Vielleicht würden wir uns in einem Kaufhaus treffen. Er würde plötzlich neben mir stehen und sagen: »Oh, diese Farbe paßt aber gar nicht zu Ihnen. Nehmen Sie doch den hier.« Und er würde mir einen marineblauen Schal entgegenhalten. »Er betont das Blau Ihrer Augen.«
Ich würde mich umdrehen und in das hübscheste Gesicht blicken, das ich je gesehen hatte. Und dann würde ich mich sofort in ihn verlieben.
»Verzeihen Sie, daß ich so frei bin, aber ich konnte nicht mitansehen, daß sie einen solchen Fehler begehen.«
»Dann muß ich mich wohl bei Ihnen bedanken«, würde ich sagen und kokett die Augen niederschlagen. »Aber zuerst würde ich gern Ihren Namen wissen.«
»Luke. Und Sie heißen Annie. Ich habe mir schon die Mühe gemacht, es herauszufinden.«
»Oh, wirklich?« Ich würde mich geschmeichelt fühlen. Dann würden wir zusammen Kaffee trinken gehen, und wir würden reden und reden. Jedes Mal, wenn ich nach Boston käme, würden wir zusammen zum Essen oder ins Kino gehen. Dann würde er mich auf dem Familienbesitz besuchen, und in dieser prachtvollen Umgebung würden wir uns näher kennenlernen. Aber das Haus würde nicht so sein, wie Drake es beschrieben hatte, sondern so wie Luke und ich es uns vorgestellt hatten: ein Märchenschloß aus dem Stoff, aus dem die Träume waren.
Aber das war unmöglich. Das Leben war wie eine Achterbahn, und wir näherten uns gerade dem höchsten Punkt. Wir würden beide bald unsere Abschlußprüfung machen, und dann würde es in rasend schneller Fahrt hinabgehen in die Zukunft, die jeden von uns in eine andere Richtung leiten würde. Wir würden uns nicht einmal mehr umwenden können, um zurückzuschauen.
Nachdem ich ihm von dem Fenster meines Zimmers aus nachgesehen hatte, wie er davonging, legte ich mich auf mein Bett und starrte durch die weiß und rosafarben gemusterten Gardinen nach draußen. Ich lauschte dem Gesang der Vögel und dem Klopfen meines Herzens. Das machte mich so traurig, daß Tränen in mir aufstiegen. Ich hatte das Gefühl, stundenlang geweint zu haben, als ich die sanfte, besorgte Stimme meiner Mutter hörte.
»Annie, was ist passiert?« Sie kam mit raschem Schritt herein und setzte sich zu mir auf das Bett. »Liebling?« Ich spürte, wie ihre Hand tröstend und teilnahmsvoll über mein langes, dunkles Haar strich. Ich
Weitere Kostenlose Bücher