Casteel-Saga 04 - Nacht über Eden
haben«, erwiderte ich.
»Selbstverständlich machen wir heute Behandlung. Sie können nicht einfach einen Tag aussetzen. Wir müssen den Körper an einen Rhythmus gewöhnen, auf den er sich verlassen kann«, belehrte sie mich. »Ruhen Sie sich jetzt ein wenig aus, und wenn ich wieder da bin, machen wir die Übungen. Ihre Beine müssen massiert werden, damit das Blut durch die Muskeln zirkuliert. Sie möchten doch nicht, daß Ihre Beine vermodern und abfallen?« fragte sie und lächelte wie eine böse Hexe. Dann drehte sie sich auf dem Absatz um und ging aus dem Zimmer, ehe ich etwas erwidern konnte. Doch das groteske Bild, das sie geboten hatte, blieb in meinem Gedächtnis.
Ich war wie Knetmasse in ihren Händen, als sie zurückkam, um mit der Massage zu beginnen. Während ich auf sie wartete, dachte ich die ganze Zeit daran, wie sich wohl meine Mutter gefühlt hatte, als sie herausfand, daß Tony ihren Vater bestochen hatte, von ihrer Hochzeit und von ihr fernzubleiben. Ich erinnerte mich gut daran, daß ihre Augen immer einen betrübten, geistesabwesenden Ausdruck angenommen hatten, wenn sie von Luke sprach. Wie traurig es doch war, daß sie nicht die Möglichkeit gehabt hatte, noch einmal mit ihm zu sprechen, um ihm zu verzeihen.
Und doch war es ja nicht nur Tonys Schuld, dachte ich. Luke war mit den Bedingungen einverstanden gewesen. Er war bereit gewesen, meine Mutter zu verlieren, um seinen heißgeliebten Zirkus besitzen zu können. Als meine Mutter die Wahrheit erfuhr, mußte ihr auch dies in den Sinn gekommen sein, wodurch das alles für sie sicherlich noch schwerer zu ertragen war. Ich konnte verstehen, warum sie empört war. Da Luke nicht mehr lebte, hatte sich ihr ganzer Zorn gegen Tony gerichtet.
Aber wenn ich mir nun Tony vorstellte, wie er sich selbst dargestellt hatte – allein in dem großen Haus, voller Reue über das, was er getan hatte, und unfähig, meine Mutter dazu zu bringen, ihm zu verzeihen –, dann konnte ich nicht anders, ich hatte auch Mitleid mit ihm. Vielleicht wäre Mutter ein wenig nachgiebiger, wenn sie ihn jetzt sehen würde. Sie war viel zu mitfühlend und liebevoll, um eine so zerquälte Seele zurückweisen zu können.
Nein, beschloß ich, ich wollte nicht von Farthinggale Manor weggebracht werden. Ich würde Tony die Möglichkeit geben, seine Reue in die Tat umzusetzen. Wenn ich gehen würde, dann wäre dies eine zu grausame Strafe für ihn. Ja, vielleicht würde er sich sogar für denselben Weg entscheiden, den sein Bruder gewählt hatte…
All diese Gedanken gingen mir durch den Kopf, während Mrs. Broadfield meine Schenkel durchknetete und meine Wadenmuskeln massierte. Der stechende Schmerz kam wieder, sogar noch stärker als beim letzten Mal, aber ich sagte es ihr nicht. Ich würde lieber auf den Arzt warten, beschloß ich, und mit ihm sprechen.
Mrs. Broadfield hob meine Beine hoch und verdrehte sie in alle Richtungen. Als ich nach unten schaute, sah ich, wie ihre kräftigen Hände meine Haut quetschten und rieben, bis das helle Weiß feuerrot wurde. Dann drehte sie mich auf den Bauch, und als ihr Finger mein Hinterteil erreichte, spürte ich es ganz genau… ohne Schmerzen. Ich spürte es einfach nur. Der Druck war beinahe schon unangenehm.
»Ich kann Ihre Finger spüren, ohne dabei Schmerzen zu haben, Mrs. Broadfield.«
»Wirklich?« Sie arbeitete weiter und drückte jetzt sogar noch stärker.
»Ja, ist das denn wichtig?«
»Könnte schon sein. Ich werde es in meinen Bericht aufnehmen.« Sie rieb immer weiter.
»Reicht das noch nicht?« fragte ich schließlich.
Sie zuckte zurück, als hätte ich ihr einen Schlag versetzt. Sogleich zog sie mein Nachthemd herunter, so daß ich bis zu den Knöcheln bedeckt war. Ihr Gesicht war rot von der Anstrengung, und ihre Augen waren so klein wie die eines Nagetiers. In diesem Augenblick waren draußen im Korridor Stimmen zu hören.
Drake und Tony näherten sich. Ich deckte mich schnell zu und legte mich zurück, um sie zu begrüßen. Drake strahlte, als er mich sah; ich aber brachte nur ein kleines, dünnes Lächeln zustande. Luke hätte sofort bemerkt, daß mich etwas quälte, dachte ich.
»Hallo, Annie.« Drake küßte mich auf die Wange. Tony war am Fuß des Bettes stehen geblieben. »Ich möchte die Liste abholen. Hätte ich einen Lastwagen mitbringen sollen?« Er lachte und wandte sich nach Tony um, der sich wieder ganz in der Hand hatte und so gepflegt und distinguiert war wie immer.
»Ich möchte gar nicht so
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