Casteel-Saga 05 - Dunkle Umarmung
hübschen Gesichtsausdruck.«
Ich wußte nicht, was ich dazu sagen sollte. War das alles wahr? War ich zart und hübsch? Wenn Tony mich für ein so bedeutendes Projekt haben wollte, mußte er diese Dinge doch in mir sehen. Er konnte mir nicht einfach schmeicheln, damit ich mich wohl fühlte.
Er warf einen langen Blick auf mich. Ich richtete meine Augen auf ihn, wie er mich angewiesen hatte, und ich sah, wie er meine Gesichtszüge maß und seine ersten Striche plante. Ich fing wirklich an, mir vorzukommen, als sei ich Teil eines künstlerischen Geschehens, und bald ließen mein Zittern und mein Herzklopfen nach. Tony sah mich an, zeichnete, sah mich an, nickte und zeichnete weiter. Ich bemühte mich, ganz stillzuhalten, aber es fiel mir sehr schwer.
»Ein wenig darfst du dich bewegen«, erlaubte er mir lächelnd. Ich tat es. »Fühlst du dich jetzt besser?«
»Ja.«
»Das wußte ich doch. Wir werden immer eine Zeitlang arbeiten und dann Pause machen. Ich habe in der Küche leckere Sachen zum Mittagessen stehen«, sagte er begeistert.
»Wie lange täglich werden wir arbeiten?«
»Wir werden morgens eine Zeitlang arbeiten, dann genüßlich und in Ruhe zu Mittag essen, und dann arbeiten wir noch ein paar Stunden am Nachmittag. Wenn es dir zuviel wird, brauchst du es nur zu sagen.«
Es überraschte mich, wie schnell die erste Stunde vorüberging. Tony forderte mich auf, mir anzusehen, was er geschaffen hatte. Ich stand auf und schaute auf die Leinwand. Er hatte die Konturen meines Gesichts skizziert, meine Lippen, meine Augen und meine Nase. Er hatte gerade erst mit meinem Haar und meinem Hals begonnen. Natürlich war es noch zu früh, um ein Urteil abzugeben, aber ich merkte jetzt schon, daß er Talent besaß.
»Das ist noch gar nichts«, sagte er, »aber ich glaube, es ist schon ein ganz guter Anfang.«
»O ja, es ist wirklich sehr gut.«
»Es ist eine wunderbare Erfahrung, künstlerisch tätig zu sein«, sagte er und starrte mit dunklen, angespannten Augen auf die Leinwand. »Es gibt einem das Gefühl, etwas erreicht zu haben, wenn man auf einer blanken Leinwand etwas zum Leben erweckt. Dieses Zeichnen entspricht den ersten Stadien der Zeugung eines Kindes… die Samen meiner Vorstellung vermengen sich mit der Wirklichkeit und nehmen Gestalt an, genauso wie sich der Samen eines Mannes an das Ei einer Frau heftet und so die ersten Anfänge entstehen läßt, die später zur Geburt eines Babys führen. Du und ich«, sagte er und drehte sich zu mir um, »wir werden hier etwas Schönes gebären, wir beide gemeinsam«, fügte er im Flüsterton hinzu.
Ich wußte nicht, was ich sagen sollte. Der Blick, mit dem er mich ansah, aus kleinen Augen, die wie Kohlen glühten, und dazu seine sanfte Stimme, ließen mich innerlich zittern. Sein Ausdruck veränderte sich schnell wieder, und er lächelte belustigt, und dann lachte er.
»Du siehst aus, als seist du zu Tode erschrocken. Ich spreche nur in Metaphern und stelle Vergleiche an«, sagte er, und dann legte er den Kopf zur Seite. »Sag mal, Leigh, hattest du schon einmal einen Freund in Winterhaven?«
»Einen Freund? Wie könnte das sein? Mama wollte, daß ich an jedem Wochenende nach Hause komme. Du weißt selbst, daß wir viel Zeit miteinander verbracht haben, miteinander skilaufen gegangen sind, miteinander ausgeritten sind…«
»Ja, schon, aber ich dachte… dort gibt es doch Jungen, die zu Besuch kommen, oder nicht?« fragte er. Er legte seinen Kopf noch mehr zur Seite und lächelte.
»Nein. Miß Mallory hat den Jungen den Zutritt zu den Gebäuden verboten, wenn nicht eine Tanzveranstaltung mit Aufsichtspersonen angekündigt ist. Es hat einige Tanzveranstaltungen gegeben, aber ich hatte nie die Gelegenheit, eine von ihnen zu besuchen«, erklärte ich bitter.
»Ich verstehe. Aber im nächsten Jahr wirst du öfter dort bleiben und Jungen kennenlernen können. Dich interessieren die Jungen doch inzwischen, oder? Was war mit deiner früheren Schule? Hast du dort einen Freund gehabt?«
»Nicht wirklich.«
»Keinen festen, was? Einfach irgendeinen«, sagte er und nickte, als hätte ich es eingestanden. »Wie wäre es mit einem kühlen Getränk? Vielleicht eine Cola?«
»Okay.« Er ging in die Küche und kam mit zwei Gläsern wieder. Beim Trinken starrte er mich an.
»Dieser Junge, der nicht wirklich dein Freund war«, begann er wieder, »den hast du doch sicher geküßt, oder nicht?«
»Nein«, sagte ich eilig. Seine Frage ließ mich erröten.
»Sei
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