Casteel-Saga 05 - Dunkle Umarmung
auf die Stirn und sagte: »Du bist einfach wunderbar. Du könntest in jedem Menschen den Künstler wecken.«
Ich wußte nicht, was ich sagen sollte. Seine Worte brachten mich in Verlegenheit und schmeichelten mir gleichzeitig. Schließlich packte er seine Sachen zusammen, und wir verließen das Haus. Ich folgte ihm durch den Irrgarten, durch die langen Schatten, die in die Gänge fielen. Mein Körper war in Aufruhr, und mich bestürmten gleichzeitig alle möglichen Gefühle. Als wir endlich aus dem Irrgarten traten, kam ich mir vor, als sei ich aus einer Traumwelt aufgetaucht und in die Realität zurückgekehrt.
Ich eilte ins Haus und begab mich sofort in meine Suite, ohne auf dem Weg auch nur nachzusehen, ob meine Mutter zurückgekehrt war. Ich mußte eilig die Türen hinter mir schließen und tief Atem holen. Mein Körper prickelte jetzt noch bei der Erinnerung an Tonys Finger, die über mich geglitten waren.
14. K APITEL
D ADDYS R ÜCKKEHR
Ich hörte, wie meine Mutter die Treppe heraufkam. Sie lachte und redete aufgekratzt mit einem unserer Dienstmädchen. Ich stürzte in dem Moment, in dem sie vorbeikam, an meine Tür.
»Mama«, rief ich. Sie drehte sich eilig um.
»O Leigh. Ich habe gerade unten mit Tony über dich geredet. Er hat gesagt, daß alles ganz wunderbar klappt. Das freut mich ja so sehr. Laß mir einen Moment Zeit, damit ich duschen und mich umziehen kann, und dann komm zu mir, damit ich dir von diesem wunderbaren Stück erzählen kann, das ich in Boston gesehen habe, und von dem großartigen Hotel, in dem meine Freundinnen und ich gewesen sind. Es war der Inbegriff von Luxus«, schwärmte sie und rauschte zu ihrer Suite.
»Mama«, rief ich, und sie blieb stehen. »Ich will jetzt mit dir reden.«
»Jetzt?« Sie sah mich kopfschüttelnd an. »Also wirklich, Leigh, du mußt mir einen Moment Zeit für mich lassen, damit ich mich zurechtmachen kann. Du weißt doch, wie abscheulich diese Autofahrten sind.«
»Aber, Mama…«
»Ich gebe dir Bescheid, wenn ich fertig bin. Es wird nicht lange dauern«, versprach sie und lief weiter, ehe ich noch mehr Einwände erheben konnte.
Es dauerte jedoch fast zwei Stunden, bis sie endlich nach mir schickte. Sie hatte geduscht, sich angezogen und sich dann auch noch frisiert und geschminkt, weil zwei Geschäftsfreunde von Tony mit ihren Frauen zum Abendessen kommen sollten.
»So, was ist so dringend?« fragte sie, als ich in ihr Schlafzimmer trat. Sie saß vor ihrer Frisierkommode, gab ihrem Haar den letzten Schliff und sah mich im Spiegel an.
»Es geht um mein Modellstehen«, sagte ich. Sie schien mir nicht zuzuhören. Ich wartete, während sie mit ein paar losen Haarsträhnen spielte. Endlich wandte sie sich zu mir um.
»Was ist damit?«
»Ich kann nicht weitermachen, Mama«, sagte ich und fing an zu weinen. Sie sprang auf, ging zur Tür und schloß sie eilig.
»Was soll das heißen? Du kannst doch nicht einfach eine Szene machen. Was denkst du dir dabei? Willst du etwa, daß die Hausangestellten uns hören? Und jeden Moment können unsere Gäste zum Essen kommen. Was ist denn los?« rief sie, und ihre Stimme klang gereizt.
»O Mama, es war schon schwer genug für mich, nackt vor Tony dazustehen, als er mich gezeichnet hat, aber als er mich dann auch noch angefaßt hat…«
»Dich angefaßt? Wovon sprichst du, Leigh? Hör auf zu schniefen wie ein kleines Kind, und rede vernünftig.«
Ich wischte mir eilig die Augen ab, setzte mich aufs Bett und sah sie an. Dann erklärte ich ihr schnell, was Tony mit mir getan hatte und wie er begründet hatte, was er tat. Sie hörte mir aufmerksam zu, und ihr Gesicht veränderte kaum seinen Ausdruck. Ihre Augen wurden lediglich manchmal schmaler, und ihre Mundwinkel zogen sich zwischendurch ein wenig herunter.
»Ist das alles?« fragte sie, als ich ausgeredet hatte. Sie setzte sich wieder vor ihre Frisierkommode.
»Ob das alles ist? Reicht das denn nicht?« schrie ich.
»Aber er hat dir doch nichts angetan, oder? Du hast selbst gesagt, daß er sich jedesmal bemüht hat, es dir leichtzumachen. In meinen Ohren klingt das, als hätte er dich äußerst rücksichtsvoll behandelt«, sagte sie und wandte sich wieder ihrem Spiegelbild zu.
»Aber, Mama, muß er mich anfassen, um mich zu malen und dieses Modell zu formen?«
»Das ist doch verständlich«, erwiderte sie. »Ich habe einmal etwas über diesen Blinden gelesen, der wunderschöne Skulpturen angefertigt und dabei nur seinen Tastsinn
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