Casteel-Saga 05 - Dunkle Umarmung
wieder auftauchte, hatte ich das Gefühl, gerade einem Verrückten entkommen zu sein. Ich stürmte zum Haus. Als ich auf die Treppe zulief, kam Mama gerade aus dem Musikzimmer. Sie war in Begleitung einer ihrer Freundinnen.
»Leigh, wie ist es heute gelaufen?«
Ich sah sie an und schüttelte den Kopf, denn ich brachte kein Wort heraus und fürchtete, wenn ich erst anfinge zu reden, würde ich in Tränen ausbrechen und sie in Verlegenheit bringen. Sie sah meinen Gesichtsausdruck und ließ ihr dünnes, silbriges Lachen auf ihre Frage folgen. Das jagte mich die Treppe hinauf und in mein Zimmer, und dort warf ich eilig meine Kleider ab und ließ mir ein heißes Bad einlaufen. Ich fing erst an, mich langsam zu entspannen und mich wieder sauber zu fühlen, als ich mindestens fünfzehn Minuten lang in dem warmen Wasser gelegen hatte. Ich war schon fast in der Wanne eingeschlafen, als ich meine Mutter eintreten hörte.
»Was ist bloß los mit dir? Wie kannst du dich vor Mrs. Wainscoat so benehmen?« tobte sie und lief wie eine Wahnsinnige auf und ab. Dabei rang sie die Hände. »Du hast ja keine Ahnung, wie gern diese Frau Gerüchte in Umlauf setzt.«
Dieses eine Mal beachtete ich ihre Hysterie nicht. »O Mama, es war heute schlimmer denn je. Tony… hat mich überall angefaßt, überall!« schrie ich. Sie schüttelte den Kopf, und ich konnte erkennen, daß sie mir gar nicht zuhörte. Was war wohl nötig, um sie dazu zu bringen, mir endlich zuzuhören – meine Hilfeschreie zur Kenntnis zu nehmen? »Alles, was er mit dem Ton tun mußte, hat er auch mit mir getan – seine Hände sind über meinen Körper geglitten, haben gestreichelt und gedrückt… manchmal minutenlang.«
Mama kochte vor Wut. »Er hat mir gerade erzählt, daß er so gut wie fertig ist und dich nur noch ein einziges Mal braucht«, sagte sie. »Stimmt das?«
»Ja, aber…«
»Dann hör jetzt endlich auf zu jammern. Du hast es hinter dir, und ich bin sicher, daß es eine wunderbare Skulptur werden wird. Und überhaupt bin ich nicht deshalb hergekommen. Du hast heute einen Anruf bekommen und bist für morgen verabredet. Dein Vater ist zurückgekommen. Er möchte in Boston mit dir zu Mittag essen.«
»Daddy ist wieder da?« Oh, dem Himmel sei Dank, dachte ich. Jetzt ist jemand da, der mir zuhört und mir hilft. Daddy war wieder zu Hause.
Am nächsten Morgen war ich sehr aufgeregt. Ich wählte mit besonderer Sorgfalt meine Kleidung und stand dann einen schuldbewußten Moment lang vor dem Spiegel. Als ich mein Spiegelbild betrachtete, überraschte mich meine Ähnlichkeit mit meiner Mutter. War das der Grund für Tonys Verhalten – war von Anfang an alles meine Schuld gewesen? Eine Zeitlang schämte ich mich bei diesem Gedanken; dann entschied ich, daß mich keine Schuld treffen konnte, was auch der wahre Grund für Tonys Verhalten sein mochte. Tony war erwachsen – und er war mein Stiefvater!
Ich bürstete mir das Haar, bis es schimmerte, und dann band ich es mit einer blaßrosa Schleife zurück, weil ich wußte, daß ich Daddy so besonders gut gefiel. Ich trug einen Hauch von Lippenstift auf und entschied mich für einen hellblauen Rock und eine dazu passende Bluse, beides aus einem schönen, leichten und luftigen Stoff. Ich steckte mir die Perlenohrringe an, die Daddy mir einmal mitgebracht hatte.
Als ich mich im Spiegel ansah, hoffte ich, daß ich ihm erwachsener vorkommen würde. Das war wichtig, denn ich wollte ihm alles erzählen, was geschehen war, und vor allem wollte ich mit ihm über mein Modellstehen für die Puppe sprechen. Ich hegte insgeheim die Hoffnung, er würde mich bitten, bei ihm zu bleiben. Wenn es mir doch bloß gelingen würde, ihm zu zeigen, daß ich jetzt alt genug war, um allein zurechtzukommen. Er mußte einsehen, wie notwendig es für mich war, von Mama und Tony fortzukommen. Das einzige, was mir leid tat, war, daß ich dann den kleinen Troy nicht mehr sehen konnte, aber ich mußte es tun.
Als wir von Farthy fortfuhren und unter dem großen Bogen durchkamen, pochte mein Herz voller Vorfreude. Wie Daddy wohl aussah? Ob er seinen Vollbart wohl noch trug? Ich konnte es nicht erwarten, sein Rasierwasser und den Geruch seines Pfeifentabaks einzuatmen, mich von ihm umarmen und gegen sein Tweedjackett pressen zu lassen, während er Küsse auf mein Haar und meine Stirn regnen ließ. Ich brauchte ihn so sehr, daß ich keinen Moment lang an die Wahrheit dachte. Nichts schien ferner zu liegen als die Tatsache, daß er in
Weitere Kostenlose Bücher