Casteel-Saga 05 - Dunkle Umarmung
Wirklichkeit gar nicht mein Vater war.
Als wir das Hotel erreicht hatten, bat ich an der Rezeption, Daddy zu verständigen und ihm zu sagen, daß ich da war. Ich wollte mich in Daddys Arme werfen und ihn so fest wie möglich an mich drücken, sowie er herunterkam. Ich stand da und wartete und schaute auf die Anzeige, die das Stockwerk aufleuchten ließ, in dem sich der Aufzug gerade befand. Ich beobachtete, daß einer der Aufzüge nach unten fuhr… fünf, vier, drei zwei… die Türen öffneten sich, und Daddy trat heraus, aber ich lief nicht auf ihn zu, wie ich es vorgehabt hatte.
Er hielt eine Frau an der Hand. Es war eine dünne Frau mit grauschwarzem Haar, das gerade bis über ihre Ohren reichte, und sie war sehr groß, so groß wie mein Vater. Sie trug ein dunkelblaues Wollkostüm und Schuhe mit breiten Absätzen. Daddy lächelte mich an, aber er ließ die Hand der Frau nicht los. Sie lächelte auch, und beide kamen auf mich zu. Ich wartete mit pochendem Herzen. Das mußte die Frau sein, von der er mir geschrieben hatte.
»Leigh«, sagte Daddy und breitete endlich seine Arme aus. Ich umarmte ihn, hielt ihn aber nicht fest. Statt dessen trat ich rasch zurück und sah mir Mildred Pierce genauer an. Ganz im Gegensatz zu Mama hatte sie blasse Haut, ein kantiges, ausgeprägtes Gesicht und tiefe, dunkle Augen. Ihre dünnen Lippen sahen aus, als würden sie sich dehnen wie Gummibänder, wenn sie lächelte. Daddy ließ seine Hände auf meinen Schultern liegen.
»Du siehst erwachsener aus, und du bist schöner denn je«, sagte Daddy.
»Danke, Daddy«, erwiderte ich. Das waren die Worte, die ich hören wollte, auf die ich gewartet hatte, aber im Moment zählten sie so gut wie gar nicht. Ich starrte immer noch die Frau an, die neben ihm stand.
»Leigh, das ist Mildred«, erklärte Daddy.
»Hallo, Leigh. Ich habe schon viel von dir gehört. Ich konnte es kaum erwarten, dich endlich kennenzulernen«, sagte sie und streckte mir ihre Hand entgegen. Sie hatte lange, dünne Finger, und ihre Hände waren nicht annähernd so zart und feminin wie die meiner Mutter.
»Hallo«, sagte ich. Ich drückte ihr kurz die Hand.
»Hast du Hunger?« fragte mein Vater. »Ich habe hier im Hotel einen Tisch für uns reservieren lassen. Ich dachte, daß das am günstigsten wäre. Oder genaugenommen«, sagte er und nahm wieder Mildreds Hand, »war das Mildreds Idee. Sie ist ausgezeichnet im Planen und in der Organisation.«
»O Cleave. Ich tue doch nur, was mir praktisch erscheint.«
»Das sieht ihr ähnlich, ihre Leistungen herunterzuspielen. Mildred ist Buchhalterin, Leigh, und daher weiß sie immer, was am rationellsten ist.«
»Wir wollen nicht über mich reden«, meinte Mildred und ergriff meine Hand. Sie ging mit uns auf das Hotelrestaurant zu. »Laß uns über dich reden. Ich möchte alles über dich wissen. Ich habe nämlich selbst zwei Kinder.«
»Wirklich?«
»O ja. Sie sind beide schon über zwanzig, und beide sind verheiratet und haben eigene Kinder.«
»Ich bin auch kein kleines Kind mehr«, versetzte ich.
»Natürlich nicht, meine Liebe«, sagte Mildred. Sie blinzelte meinem Vater zu. »Es sieht doch jeder, daß du eine junge Dame bist.«
Wir betraten das Restaurant, und der Empfangschef führte uns an den Tisch, der für uns reserviert war. Daddy zog Mildreds Stuhl zurück, der Empfangschef meinen. Als wir erst einmal saßen, sah ich mir Daddy genauer an. Sein Äußeres wies keine allzu großen Veränderungen auf, aber er machte einen viel glücklicheren Eindruck als bei unserem letzten Treffen. Sein Bart war gestutzt und gepflegt, und seine Wangen waren rosig. Ich hatte den Eindruck, daß er sich das Haar hatte kürzer schneiden lassen, aber er trug genau den Anzug und die Krawatte, die Mama mit der Zeit in ihrer Verzweiflung seine »Uniform« getauft hatte.
»Und jetzt erzähl mir, wie es in dieser neuen Schule ist«, forderte mich Daddy auf.
»Es ist ganz in Ordnung«, sagte ich.
»Mehr nicht?«
»Es ist eine gute Schule«, räumte ich ein. »Aber mir gefällt es in einer staatlichen Schule besser, und keine meiner Lehrerinnen ist so gut wie Mr. Abrams«, fügte ich eilig hinzu.
»Mr. Abrams war der Hauslehrer, den ich immer eingestellt habe, wenn wir Leigh während des Schuljahres auf eine Reise mitgenommen haben«, erklärte Daddy Mildred. Sie nickte.
»Ich kann es kaum erwarten, wieder eine Reise zu machen«, sagte ich. Daddy nickte, und um seine Augen spielte ein Lächeln, aber er machte nicht das
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