Casteel-Saga 05 - Dunkle Umarmung
abgestanden, und solche Luft kann der Haut schaden. Ich hatte lange Gespräche mit den Experten in diesem phantastischen Kurort«, sagte sie schnell, ehe ich ihr ins Wort fallen konnte. »Hast du nie bemerkt, daß Schweizerinnen einen ausgezeichneten Teint haben? Das ist teilweise auf ihre Ernährung zurückzuführen«, fuhr sie fort, als säße ich als Schülerin in einer Unterrichtsstunde, »aber teilweise auch auf die Gymnastik, die frische Luft, die Sauna und die Schlammpackungen. Ich habe Tony schon gebeten, mir eine Sauna ins Badezimmer zu bauen«, schloß sie.
»Mama, ich sehe so aus, weil ich eine gräßliche Erfahrung hinter mir habe. Wenn du mir bloß zuhören würdest, ich meine, wirklich zuhören…«
»Du fängst doch nicht etwa schon wieder damit an, Leigh?« sagte sie und zog einen Schmollmund. »Das halte ich einfach nicht aus. Ich weiß ohnehin nicht, wieso ich noch nicht zusammengebrochen bin, wenn man bedenkt, wie wenig Schlaf und Ruhe ich bekommen habe, seit ich aus der Schweiz abgereist bin. Ich habe mich gezwungen, nur um deinetwillen und für Tony energiesprühend und überschäumend zu wirken, aber jetzt bin ich müde. Ich gehe nach oben.«
»Mama.«
»Gute Nacht, Leigh. Ich hoffe, die Uhr gefällt dir.« Sie ließ mich dort sitzen, inmitten der geöffneten Päckchen und Pakete. Ich stopfte meine neue Uhr wieder in ihr Etui. Wen interessierte das schon? Was hatten edle und teure Gegenstände jetzt noch zu bedeuten? Glaubte sie etwa, mit Gold und Diamanten ließe sich alles wieder in Ordnung bringen?
Ich war am Boden zerstört und dachte, daß ich ebensogut unsichtbar sein könnte. Mama wird mich nicht ansehen, mich nicht anhören und die Wahrheit nicht erkennen. Der Glanz und Glitzer ihres eigenen Lebens blendeten sie.
Es war auch später jedesmal dasselbe, wenn ich versuchte, diese gräßliche Geschichte anzusprechen. Mama beachtete mich gar nicht. Schließlich gab ich auf. Die meiste Zeit verbrachte ich damit, allein am Strand spazierenzugehen oder auszureiten. Die Seeluft, die Geräusche der Brandung und der wohltuende Anblick der Wellen wirkten beruhigend auf mich. Ich las, schrieb in dieses Tagebuch, hörte meine Platten an und verbrachte viel Zeit mit Troy.
Jennifer rief etliche Male an, doch ich rief nie zurück. Auch bei Joshua meldete ich mich nicht. Er hatte ohnehin Ende Juni angerufen, um mir zu sagen, daß er mit seiner Familie Urlaub machen und fast einen Monat lang fort sein würde. Er hatte gehofft, mich vor seiner Abreise noch einmal treffen zu können, aber ich konnte ihn einfach nicht sehen. Wenn er mir ins Gesicht geschaut hätte, hätte er genau gewußt, was passiert war, und er hätte mich dafür gehaßt, das wußte ich ganz genau. Ich fand Trost in meiner Einsamkeit. Es stellte sich heraus, daß die Natur mir die Mutter und der Vater war, die ich nicht mehr hatte, und sie linderte meine Schmerzen, streichelte mich mit ihren warmen Winden und erfüllte mich mit einem Gefühl von Geborgenheit, das ich in dem großen Haus mit seinen dunklen Winkeln und den riesigen Räumen nicht finden konnte.
Wenn ich Spaziergänge mit Troy unternahm, ließ ich ihn immer vorauslaufen und lauschte seinem kindlichen Plappern, und dabei hörte ich nicht so sehr die Worte wie seine unschuldige, glückliche Stimme. Ich saß gern mit ihm da und schaute aufs Meer und beantwortete seine Fragen, während ich ihm über das weiche Haar strich. Auf gewisse Weise wünschte ich mir, wieder in seiner Welt zu sein, einer kindlichen Welt, der Welt von Puppen, Spielsachen und Zuckerstangen, einer Welt ohne bittere Wahrheiten. Dort konnten sämtliche Schreckgespenster von einer herzlichen Umarmung, einem zarten, tröstlichen Kuß oder einem Versprechen für den morgigen Tag verscheucht werden.
Mama tauchte wieder ins gesellschaftliche Leben ein, besuchte ihre nachmittäglichen Bridgeclubs, sah sich in Boston Theaterstücke an und erledigte ihre Einkäufe. Sie bewirtete beim Abendessen wohlhabende Bekannte oder ließ sich von ihnen zum Essen einladen. Bei verschiedenen Gelegenheiten versuchte sie, mich zum Mitkommen zu überreden. Sie behauptete, ihr ginge es darum, mich mit den Söhnen und Töchtern der Oberschicht zusammenzubringen, aber ich lehnte jedesmal ab.
Tony hielt Abstand, sprach kaum mit mir und vermied es sogar, mich anzusehen, insbesondere, wenn meine Mutter dabei war.
Zu Beginn der dritten Juliwoche erklärte er dann, daß er eine kurze Geschäftsreise nach Europa unternehmen mußte.
Weitere Kostenlose Bücher