Casteel-Saga 05 - Dunkle Umarmung
Morgendämmerung erwachte ich und sah auf Bauernhöfe und ebene Felder hinaus. Der ältere Herr war bereits wach.
»Wie weit fahren Sie, Miß?« fragte er.
»Bis Atlanta.«
»Ich steige an der nächsten Station aus. Sie haben noch rund fünf Stunden vor sich. Sie können im Speisewagen frühstücken. Eine sehr hübsche Puppe«, sagte er und wies mit einer Kopfbewegung auf Angel. »Ich glaube nicht, daß ich schon einmal eine so schöne Puppe gesehen habe«, fügte er mit einem bewundernden Lächeln hinzu.
»Danke.«
»Sie fahren nach Hause?«
Ich hielt es für besser, ja zu sagen. Auf gewisse Weise war ich vielleicht sogar auf dem Heimweg, dachte ich zu meiner Rechtfertigung.
Er streckte sich.
»Ich auch«, sagte er. »Ich bin fast einen Monat unterwegs gewesen. Ich bin Handlungsreisender, Schuhe für den Großhandel.«
»Es muß hart für Sie sein, so lange von Ihrer Familie getrennt zu sein.«
»Das kann man sagen. Es gibt nichts Schöneres, als nach Hause zu kommen. Meine Kinder sind natürlich alle schon erwachsen. Trotzdem freue ich mich. Wir haben fünf Enkel«, fügte er hinzu und lächelte voller Stolz.
Ich lächelte zurück, und dann dachte ich daran, daß Mama auch bald ein Enkelkind haben würde, sich aber bestimmt nicht so darüber freute wie dieser Mann. Ihr Enkelkind war von ihrem neuen Ehemann gezeugt worden. Die krankhaft verzerrte und finstere Welt von Farthy würde mein Baby für alle Zeit verfolgen. Das war fast ein Grund, es nicht zu behalten.
Aber vielleicht konnte ich eine andere Welt finden, eine Welt, die vollkommen anders als Farthy war, und vielleicht konnte ich mein Kind in diese Welt mitnehmen. Könnte ich es doch nur, könnte ich es doch nur, könnte ich es doch nur. Zum Rhythmus der Räder sagte ich es immer wieder vor mich hin wie ein stummes Gebet. Dann lehnte sich mein Magen vor Hunger auf.
»Ich denke, ich sollte etwas frühstücken«, meinte ich und stand auf.
»Ich kann auf Ihre Puppe aufpassen«, bot sich der Herr an.
»O nein, Sir. Wohin ich auch gehe, ich nehme sie immer mit«, sagte ich. »Und außerdem ist sie genauso hungrig wie ich.«
Er lachte, und ich ging, um den Speisewagen zu suchen.
Der Mann war schon ausgestiegen, als ich zurückkam. Die nächsten dreieinhalb Stunden verbrachte ich allein und sah aus dem Fenster. Als ich die Durchsage hört, daß wir in Kürze Atlanta erreichten, fing mein Herz wieder an zu pochen. Die erste Etappe meiner langen, traurigen Reise war vorüber. Ich war weit weg von Farthy, und inzwischen war Mama mit Sicherheit außer sich vor Wut. Ich fragte mich, was sie unternehmen würde. Ob sie die Polizei verständigte, oder hatte sie Angst vor einem Skandal? Versuchte sie, mit Tony in Europa Kontakt aufzunehmen?
Eins war sicher, dachte ich, sie würde ihre Wohltätigkeitsveranstaltung auf Farthy nicht abbrechen. Niemand, der zu Besuch kam, hätte ihrem Gesicht ansehen können, daß etwas nicht stimmte, und sie hatte sicherlich das Personal angewiesen, niemandem gegenüber auch nur ein Wort über die Ereignisse zu erwähnen.
Ich blieb einen Moment lang auf dem Bahnsteig stehen und las alle Schilder, die den Fahrgästen Auskunft darüber gaben, wo sie welche Anschlüsse bekamen. Der Bahnhof von Atlanta war größer als der in Boston, und es schienen riesige Menschenmengen durch die Gegend zu eilen. Ich fand einen Informationsschalter in der großen Schalterhalle und zeigte der jungen Frau, die dort saß, meine Fahrkarte.
»Sie müssen dort drüben nach links abbiegen und dann gleich wieder nach rechts. Sie werden die Schilder sehen, aber Ihr Zug fährt nicht vor acht Uhr heute abend ab.«
Ich kaufte mir eine Illustrierte, bevor ich auf den richtigen Bahnsteig ging. Er war wesentlich breiter und länger als der Bahnsteig in Boston. Gleich rechts daneben war ein kleiner Wartesaal, und ich ging direkt darauf zu und setzte mich ziemlich weit hinten auf eine Bank. Dann zählte ich mein Geld. Ich hatte nicht mehr viel übrig und hoffte, daß es noch für ein Mittag- und ein Abendessen ausreichte.
»Ich wette, daß ich einen der Eindollarscheine in einen Fünfdollarschein verwandeln kann«, sagte jemand, und als ich aufblickte, sah ich in die leuchtendsten schwarzen Augen, die ich je gesehen hatte. Der junge Mann, der vor mir stand, hatte dichtes dunkles Haar, das wie Ebenholz schimmerte, und seine Haut war gebräunt. Er war groß, sah gut aus und hatte breite Schultern, die die Nähte seines dünnen, kurzärmeligen Hemds zu
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